
Das erste Mal durch die Mauer
(Ein Erlebnisbericht von Dieter Kermas)
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Es war Mai 1990 und der DDR-Staat begann, sich merkbar zu wandeln. Zur Einreise genügte für uns Westberliner jetzt nur der normale Personalausweis.
Am 11. Mai fuhren wir, Helga und ich, zum nächstgelegenen Grenzübergang am Ostpreußendamm. Der Grenzpolizist auf der Ostseite warf nur einen kurzen Blick auf unsere Ausweise und gab sie mit einem Lächeln und einem „Gute Fahrt“ zurück. Wir waren über diesen, in den vergangenen Jahrzehnten noch nie gesehenen Gesichtsausdruck bei einem „Grenzorgan“ richtig verblüfft.
Die Möglichkeit, ohne die oft erduldeten Schikanen, die nächste Umgebung hinter der Mauer zu erkunden, war für uns nach fast vierzig Jahren natürlich sehr verlockend.
Aus meiner Kindheit waren Ortsnamen wie Köpenick, Erkner und Müggelsee, in mir noch recht lebendig. Am heutigen Tag wollten wir nun mit der Erkundung dieser Umgebung beginnen.
Bei strahlendem Sonnenschein ging die Fahrt über Teltow, Mahlow, Waßmannsdorf, am Flughafen Schönefeld vorbei, nach Köpenick.
Dem Tipp eines Kollegen folgend, besichtigten wir die Ausstellung im Schloss Köpenick. Wir hatten den Rundgang recht zügig hinter uns gebracht, obwohl die Exponate mehr Zeit verdient hätten, und standen so gegen elf Uhr wieder auf dem Schlosshof. Nachdem uns eine Tasse Kaffee in der Schlossgaststätte wieder fit gemacht hatte, entschlossen wir uns, die Fahrt in Richtung Müggelsee fortzusetzen.
Während der Fahrt, die Sonne brannte uns schon recht heiß durch das offene Schiebedach auf die Köpfe, hatte ich urplötzlich die Idee bis nach Gosen weiterzufahren. Meine Frau stimmte sofort zu. Die Straßenbeschilderung war ausreichend gut, und so trafen wir gegen zwölf Uhr in Gosen ein.
Kurz vor Gosen überquerten wir zwei Brücken und ich erinnerte mich in diesem Moment an eine Fahrt mit Tante Klara. Als sie uns 1948 mit dem Pferdewagen vom Bahnhof Erkner abgeholt hatte, und wir durch das Wasser fahren mussten, weil die Brücke zerstört war.
Aus der Erinnerung heraus versuchte ich den Weg zu unseren Verwandten zu finden, doch vergebens. In den Jahren hatte sich doch mehr verändert, als ich angenommen hatte. Um nicht länger umherzuirren, erkundigte ich mich bei einem älteren Mann, der gerade mit einem kleinen Jungen den Weg entlang kam, nach der Familie Krauel.
Er fragte zögernd zurück, ob ich Alfred Krauel suchen würde, und ich bejahte dies. Mit bekümmerter Miene teilte er uns mit, dass gerade heute, am 11. Mai, Alfred Krauel Senior zu Grabe getragen würde.
Das konnte doch nicht wahr sein, dachte ich. Nach fast vierzig Jahren der Trennung wurde mein Onkel Alfred gerade an diesem Tag beerdigt. Zufall oder ein Wink des Schicksals?
Der alte Herr beschrieb uns noch die Richtung zum Hause Krauel und ging seines Weges.
Noch etwas erschrocken und verwirrt überlegten wir, ob gerade heute der richtige Tag für ein Wiedersehen sei. Wer und was erwartete uns?
Wir entschlossen uns, das Wagnis einzugehen und fuhren zur Seestraße 24. Als wir vor dem niedrigen Bauernhaus standen, es war früher mit Reet gedeckt, erkannte ich es sofort wieder.
Ich ging bis zum Gartentor und rief, niemand meldete sich. Nach kurzem Überlegen, entschlossen wir uns erst einmal etwas essen zu gehen.
Im Gasthof nahmen wir dann unsere Mahlzeit ein. Im Hinausgehen entdeckte ich zufällig in einem Nebenraum eine gedeckte Tafel. Die Bedienung erzählte uns, dass der Raum von der Familie Krauel für eine Feier bestellt wäre.
Wir hatten uns vorgenommen, nach dem Essen, ein zweites Mal zur Seestraße zu fahren. Ich stieg aus, ging durch das offene, erste Gartentor bis zum zweiten Tor. Hinter dem Haus hörte ich Stimmen und so rief ich: „Hallo!“ Zuerst kam ein Hund um die Ecke gesaust und blieb bellend hinter dem Tor stehen. Kurz darauf bog ein Mann um die Hausecke, blieb stehen, kam langsam näher und fragte, wen ich sprechen möchte.
Vom Alter her, so ging es durch meinen Kopf, könnte das wohl mein Cousin Alfred sein. Spontan und nichts Besseres auf der Zunge, rief ich: „Ich bin Dieter Kermas aus Berlin, bist Du Alfred?“ Die Verblüffung auf der anderen Seite dauerte nur eine Sekunde, dann wurde das Tor aufgeschlossen, aufgerissen und Alfred packte mich bei den Schultern und fast schleppte er mich bis zur Hausecke. Auf dem kurzen Weg dorthin deutete er mir an, nicht zu sagen, wer ich sei.
Hinter dem Haus saßen unter dem Nussbaum einige Personen, die mich etwas verwundert und neugierig musterten. Zu einer älteren Frau gewandt, fragte Alfred: „ Na, wer ist das wohl, den ich hier bringe? Erkennst Du ihn?“ Natürlich war das nach den vergangenen Jahrzehnten fast ausgeschlossen. Ich stellte mich dann vor und auch alle Anwesenden nannten ihre Namen.
Die Begrüßung war recht stürmisch und ganz besonders herzlich wurde ich von Tante Else willkommen geheißen. Erst nach einigen Minuten konnte ich erklären, dass meine Frau noch im Wagen säße.
Sofort lief Alfred mit mir auf die Straße und Helga wurde ebenfalls zum Platz unter dem Nussbaum gezogen und dort herzlich begrüßt.
In die Freude des Wiedersehens mischte sich der Schatten des Trauertages, und so war ich fast geneigt, wieder zurückzufahren. Schließlich entschieden wir uns doch dazubleiben, und Onkel Alfred auf seinem letzten Weg zu begleiten.
Alfred lieh mir noch ein dunkles Hemd, und wir gaben seinem Vater die letzte Ehre.
Im Gasthof versammelten wir uns dann bei Kaffee und Kuchen. Ein ums andere Mal erzählte Alfred den Gästen die erstaunliche Tatsache, gerade an diesem Tag, den Cousin aus Berlin nach vierzig Jahren wiedergefunden zu haben.
Die Stunden vergingen, und wir hätten noch lange dort sitzen können, doch den Weg nach Hause hatten wir noch vor uns. So verabschiedeten wir uns und fuhren heimwärts, nicht ohne vorher Alfred versprochen zu haben, bald wiederzukommen.
Die Gedanken kreisten in unseren Köpfen, und zu Hause angekommen, diskutierten wir noch bis Mitternacht das Erlebte, während der Maiglöckchenstrauß von Tante Else das Zimmer mit seinem Duft erfüllte.
Berlin, September 1990
© Dieter Kermas
Photo: ©Dieter Kermas———————————————————————————————————————–
Dieter Kermas, CaliforniaGermans Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subjectline “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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