Mein erstes Du
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
.An einem trüben, regnerischen Montagmorgen erschien mein Gruppenleiter kurz nach sieben Uhr in meinem Arbeitszimmer. So früh? Am Montag? Das sah nach Arbeit aus.
In knappen Worten teilte er mir mit, dass heute meine Teilnahme an einer kurzfristig angesetzten Besprechung im „Turn- und Sport-Klub“ gewünscht werde, und zwar um elf Uhr in der Bauleitung auf dem Sportgelände. Mit einem aufmunternden Lächeln fügte er hinzu: „Sie hatten ja mit den Kollegen von drüben bereits Kontakt“, und schloss die Tür hinter sich.
Damit meinte er die Mitarbeiter der ehemaligen DDR–Sportverwaltung. Bei den Gesprächen, die ich dort in den vergangenen Wochen über die Sanierung der völlig maroden technischen Anlagen geführt hatte, hatte immer eine fühlbare Spannung in der Luft gelegen. Es war eine Art Misstrauen, das ich zu verspüren glaubte. Alle duzten sich, während ich stets mit „Sie“ angesprochen wurde. Fast alle meine Fragen oder Vorschläge ließen eine für mich ungewohnte Pause entstehen, ehe eine Antwort kam. Ich hatte das ungute Gefühl, immer noch der Klassenfeind zu sein. Vielleicht hatten auch die Jahrzehnte in der DDR den Mut meiner Gesprächspartner zur spontanen Meinungsäußerung versiegen lassen.
Gegen zehn Uhr fuhr ich mit dem Auto über die ehemalige Grenzkontrollstelle in der Heinrich-Heine-Straße von West- nach Ostberlin. Es war kaum noch zu erkennen, wo sich die Mauer und die Abfertigungsstelle einst befunden hatten. Allein an den Häusern vor der Grenze und den Häusern danach sah ich den Unterschied zwischen Ost und West.
Der Besprechungsraum lag in der zweiten Etage der Technischen Abteilung. Im Flur stieg mir der durchdringende Geruch des DDR-Bodenpflegemittels in die Nase, der sich in allen öffentlichen Gebäuden wiederfand.
Wie immer war ich zu früh. Ich setzte mich und holte meine Unterlagen aus der Tasche. Kaum hatte ich die ersten Schriftstücke auf den Tisch gelegt, als sich die Tür öffnete. Der Raum füllte sich rasch, und ich schätzte, dass wir schließlich so an die zwanzig Personen waren. Zu meiner Rechten saß ein ergrauter Mann, der seiner Kleidung nach zum Personal des Maschinenhauses gehören konnte. Links von mir nahm eine junge Frau Platz. Drei TSC-Mitarbeiter setzten sich an das Kopfende des langen Tisches und begannen in Akten zu blättern.
Ich sah in die Runde, und mich beschlich erneut das Gefühl, hier ein Fremdkörper zu sein. Die Sitzung war noch nicht eröffnet, und so unterhielten sich die Teilnehmer leise und gedämpft.
„Bist du neu hier?“, hörte ich meine Nachbarin zur Linken fragen. Zuerst dachte ich, dass die Frage nicht mir gelte, doch sie sah eindeutig mich dabei an. Ich überlegte kurz, wie ich auf dieses sozialistische „Du“ reagieren sollte. Das eingefleischte kapitalistische „Sie“ war noch so präsent in mir, dass ich antwortete: „Ja, aber Sie können nicht wissen, dass ich ab heute hier die Bauleitung für die Senatsverwaltung für Jugend und Sport habe“, und ich stellte mich mit meinem Nachnamen vor. Sie schaute mich daraufhin fast erschrocken an, sodass ich lachen musste und eilig hinzufügte: „Ich bitte um Entschuldigung, ich vergaß die hiesigen Gepflogenheiten. Ich heiße Dieter und du?“
Wir lachten beide recht laut und erleichtert über diese Wendung, sodass uns strafende Blicke trafen. Das unbehagliche Gefühl, das mich vorher stets begleitet hatte, war schlagartig verschwunden.
Als ich nach der Besprechung zurück zum Ausgang ging, roch das Bodenpflegemittel nicht mehr so durchdringend, und die Gesichter der Mitarbeiter, die mir entgegenkamen, sahen freundlicher aus. Auf dem Hof durchbrach die Sonne die Regenwolken, und es schien mir, als wollte sie sagen: „Na, bist du endlich angekommen bei deinen Landsleuten aus den neuen Bundesländern?!“
Ich nickte ihr lächelnd zu.
© Dieter Kermas
Photo ©CaliforniaGermans———————————————————————————————————————–
Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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