Boldi der Netzgeist
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
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Das Geschrei aus der oberen Etage war so durchdringend, dass die Mutter den Topf mit dem Abendessen auf eine kalte Herdstelle schob und die Treppe nach oben eilte.
»Was ist hier los, warum macht ihr so einen Lärm?«, fragte sie, als sie ins Kinderzimmer stürmte.
»Wir hatten abgemacht, dass jede von uns eine Stunde im Internet surfen darf«, beklagte sich Saline, die stets Weinerliche, wobei ihr einige salzige Tränchen über die Wangen kullerten. Jetzt sitzt Lavine schon fast zwei Stunden am Computer und lässt uns nicht ran«, mault Limone und zieht wie immer ein saures Gesicht. »Lavine«, wendet sich die Mutter an ihre vollschlanke, echt pommesfette Tochter, »was sagst Du dazu?«
»Das stimmt nicht, es waren nur ein paar Minuten länger und ich wollte doch nur noch meiner Freundin das Neueste über Paul mitteilen«, verteidigte sich die dicke Lavine.
»So, jetzt ist aber Schluss mit dem Geheule und dem Krach. Wenn ihr nicht sofort Ruhe gebt, werde ich den Computer für ein paar Tage einschließen«, drohte die Mutter.
»Bis zum Abendessen ist noch eine Stunde Zeit. Saline und Limone ihr habt noch je eine halbe Stunde Zeit, um euch mit euren Internetfreunden zu unterhalten.«
»Du meinst „chatten“, Mama«, wagt Lavine ihre Mutter zu korrigieren. »Werd nicht noch frech, das fehlt mir gerade noch«, schnaubt die Mutter erbost und eilt aus dem Zimmer.
Bis auf ihre Eigenarten, die sich in ihren Namen wiederfanden, verstanden sich die drei Schwestern sehr gut. Bei Streitigkeiten zwischen Saline und Limone war es Lavine, die in ihrer ausgeglichenen Art, zur Aussöhnung beitrug.
Kaum aber war die Mutter aus dem Zimmer, ging der Streit zwischen Saline und Limone los, wer nun an der Reihe wäre. Es dauerte nur wenige Minuten und der Streit eskalierte so in der Lautstärke, dass kurz darauf die genervte Mutter im Zimmer auftauchte.
»Ich habe es Euch vorhin gesagt«, begann sie,» wenn hier nicht Ruhe ist, kommt der Computer weggeschlossen«, sprach es, riss die Stecker aus dem Kasten und verschwand mit dem Gerät aus dem Zimmer. Einen Moment herrschte entsetztes Schweigen bei den Kindern. Dann begannen sie, sich gegenseitig die Schuld für den weggeschlossenen Computer zuzuschieben.
Am Abendbrottisch wunderte sich der von der Arbeit heimgekommene Vater über die gedrückte Stimmung. Als er den Grund erfuhr, fand er die Strafe, den Computer für eine Woche einzuschließen, etwas hart, beugte sich aber der Meinung seiner Frau.
Da am nächsten Tag das Wochenende begann, schlug der Vater vor, zu Oma und Opa in das Nachbardorf zu fahren. Seine Eltern hatten noch einen kleinen Bauernhof, den sie sogar noch selbst bewirtschafteten. Der Nachbar dort besaß Reitponys, auf denen die Kinder begeistert durch die Wiesen galoppierten. Saline und Lavine stimmten begeistert zu und vergaßen im Moment sogar ihren so heiß geliebten Computer. Limone hingegen zog die Mundwinkel nach unten und schien von dem Gedanken wenig begeistert zu sein.
Später sah sich die Familie noch eine Quizsendung im Fernsehen an. Nach einiger Zeit entschuldigte sich Limone mit den Worten: »Mir ist irgendwie nicht gut, ich habe Kopfschmerzen. Ich gehe lieber auf mein Zimmer«.
Als die Mutter besorgt fragte, ob sie ihr helfen könnte, wehrte Limone ab und meinte, so schlimm wäre es auch wieder nicht.
Spät am Abend ging die Mutter noch einmal nach oben, um nach der Tochter zu schauen.
Sie fühlte und hatte den Eindruck, dass Limones Kopf etwas zu warm war. Hoffentlich bist Du bis morgen wieder auf den Beinen, damit Du mit uns mitkommen kannst.
»Ach, das wäre auch nicht so schlimm«, entgegnete die Tochter, »ich bin mit meinen vierzehn Jahren alt genug, um mal ein Wochenende allein durchzuhalten«.
»Na, dann gute Besserung und eine gute Nacht. Schlaft gut, denn morgen müsst ihr früh raus«, wünschte sie den Kindern und ging zu Bett.
Am nächsten Morgen trat das ein, was Limone prophezeit hatte. Sie fühlte sich schlapp und wollte auch nicht frühstücken. Die Eltern überlegten, ob sie den Ausflug aus diesem Grund absagen sollten. »Nein, das dürft ihr auf keinen Fall machen«, protestierte Limone. »Ihr habt Euch alle so auf die Großeltern und die Ponys gefreut. Macht Euch keine Sorgen, ich halte bis Sonntagabend schon durch«, bekräftigte sie.
»Bist Du Dir auch ganz sicher, dass Du alleine bleiben willst?«, fragte der Vater.
»Absolut sicher. Fahrt schon los. Wenn es mir schlechter gehen sollte, dann rufe ich Euch sofort an. Dann könnt Ihr in etwas mehr als einer Stunde wieder bei mir sein«, beruhigte Limone die Eltern.
Nach einigen guten Ratschlägen, die ihr ihre Mutter noch mitgab, ging Limone auf ihr Zimmer und die Familie packte noch einige Sachen in den Kofferraum des Wagens.
Kaum jedoch waren die Eltern mit den Schwestern ins Auto gestiegen, eilte Limone flink und sichtlich putzmunter an das Fenster. Als sie sah, wie das Auto vom Hof in die Allee einbog und in der Ferne verschwand, rannte sie in das Wohnzimmer. Dort hatte die Mutter den Laptop eingeschlossen. Limone hatte gut aufgepasst und wusste, dass der Schlüssel in einer großen Sammeltasse im Küchenschrank aufbewahrt wurde.
Sie riss so hastig die Tasse aus dem Schrank, dass ihr diese beinahe aus der Hand gerutscht wäre. Sie nahm den Schlüssel heraus und stellte die Tasse mit leicht zitternder Hand zurück.
Dann ging alles sehr rasch. Der Computer war sekundenschnell angeschlossen und eingeschaltet. Limone starrte auf den Bildschirm. Nichts rührte sich. Die Kontrolllämpchen brannten vorschriftsmäßig, aber das war auch alles.
Nervös und hektisch tippte sie immer wieder auf die Entertaste. Wieder und wieder schaute sie auf den Monitor. Sie sah verschwommen ihr Gesicht, streckte ihm wütend die Zunge raus und rief »Bäh, du doofer Kasten. Mach hin, ich will chatten.«
Tipp, tipp, tipp machte der Finger auf der Taste. Sie schaute wieder angestrengt auf den Bildschirm, ob sich nicht doch etwas dort zeigte. Doch, da war etwas, jedenfalls etwas anderes als vor ein paar Sekunden. Sie meinte ihre Augen zu sehen, aber sie sahen so seltsam groß und schwarz aus. Meine sind doch blau, ging es ihr noch durch den Sinn, als eine Stimme leise, doch deutlich »hallo Limone«, rief.
Vor Schreck riss sie ihre Hände hoch, um nicht mehr die Tastatur zu berühren und schloss die Augen.
Dann wagte sie vorsichtig wieder auf den Bildschirm zu schauen. Sie erkannte noch etwas undeutlich ein rundes, blasses Gesicht mit großen schwarzen Augen.
»Wa…, wa… was willst Du von mir. Wer bist Du?«, stotterte sie erschrocken.
»Ha, das möchtest Du gerne wissen?«, flüsterte das Gesicht. »Nenn mich doch einfach „Boldi“, mir soll´s recht sein. Tja, was ich von Dir will, das ist schnell gesagt. Früher, vor vielen Hundert Jahren gab es Kobolde, die unartige Kinder mit bösen Streichen bestraften, sie erschreckten und dafür sorgten, dass sie sich im Wald verliefen. Das ist lange her und kaum ein Kind verläuft sich heute noch in einem Wald. Aus so einer Koboldfamilie stamme ich und musste mich notgedrungen der heutigen, modernen Zeit anpassen. Jedoch ist es immer noch meine Aufgabe, Kinder, die ihre Eltern belügen, bestehlen oder anderweitig unartig sind, zu bestrafen. Nun frage bitte nicht, warum ich heute zu Dir gekommen bin. Das weißt Du selber.«
Limone hatte atemlos zugehört und fragte angstvoll: »Was willst Du mit mir machen?«
»Höre gut zu, was ich Dir jetzt sage«, flüsterte das unheimliche Bildschirmgesicht.
»Zur Strafe, dass Du Deine Eltern mit Deinem Unwohlsein beschwindelt hast und den Laptop heimlich aus dem Schrank geholt hast, wirst Du für einige Zeit nicht mehr den PC benutzen können«, sprachs und verschwand vom Monitor.
»Halt, warte bitte. Wielange wird das dauern?«, rief Limone entsetzt, aber es war bereits zu spät. Das Gesicht blieb verschwunden.
Mit fliegenden Händen und mit einem plötzlich erwachten schlechten Gewissen beeilte sie sich, den Laptop wieder in den Schrank zu legen und den Schlüssel wieder zurück in die Tasse zu stecken.
Das Ereignis hatte Limone so aufgeregt, dass sie fühlte, wie sich alles vor ihren Augen zu drehen begann. Sie schaffte es gerade noch, sich auf das Sofa zu legen.
Ihr wurde immer wärmer, und als der Abend hereinbrach, war sie sicher, dass sie nun wirklich Fieber hatte. Nein, sie würde nicht die Eltern anrufen. Sie wären sicher so besorgt, dass sie ihren Wochenendausflug sofort abbrächen und zurückkämen.
Sie schleppte sich in die Küche, trank ein Glas Wasser und verkroch sich ins Bett.
Im Schlaf sah sie die schwarzen Augen dicht vor sich, hörte die mahnende Stimme und warf sich unruhig von einer Seite die andere. Im Halbschlaf fragte sie: »Wo finde ich Dich Netzgeist?« Er kicherte: »Ich wohne in den Servern, da ist es so schön warm«, dann verschwand er wieder.
Am nächsten Morgen, sie hatte bis elf Uhr geschlafen, war das Fieber zurückgegangen. Sie fühlte sich ausgeruht und, nachdem sie sich gewaschen und die Zähne geputzt hatte, machte sie sich in der Küche eine Schale Müsli mit Milch.
Mitten beim Kauen stoppte sie. Wie, das, habe ich alles nur geträumt, fuhr es ihr durch den Kopf. Sie erinnerte sich genau noch daran, dass sie den Laptop angeschlossen hatte und dann … Was war dann passiert? Hatte wirklich ein „Geist“ mit ihr gesprochen und ihr Strafe angedroht? Nein, sie war sich absolut sicher, dass nur das Fieber daran schuld war. Dass der PC nicht funktionierte, das hatte sicher eine ganz einfache Erklärung. Wenn die Geschwister ihn wieder anschlössen, funktionierte er ganz gewiss wieder. Dieser Gedanke tröstete sie ungemein.
Die Zeit bis zur Rückkehr der Eltern verging rasch. Sie telefonierten mehrmals am Tag miteinander. Limone hatte sich mit Gartenarbeit, Lesen und Musikhören die Zeit vertrieben. Die gute Nachricht, die Limone von den Eltern hörte, war, dass der Vater die Mutter überzeugt hatte, den Computer bereits nach ihrer Rückkehr wieder herauszurücken.
Montag, nach der Schule, durfte Lavine den PC ins Kinderzimmer bringen. Die Mädchen setzten sich an den Tisch, um gespannt zu sehen, wer ihnen Mails geschrieben haben könnte. Lavine hatte zwei Mails von einem Jungen aus ihrer Klasse erhalten und Saline war außer sich vor Freude, als sie von ihrem neuen Freund zu einer Radtour eingeladen wurde. Dann setzte sich Limone vor den PC und wollte in ihrem Postfach nach Eingängen nachsehen. Kaum hatte sie die erste Taste berührt, als der Bildschirm erlosch.
»Was hast Du wieder gemacht«, rief erschrocken Saline aus. »Nichts, ihr habt doch gesehen, dass ich nur in mein Postfach schauen wollte«, verteidigte sich Limone. In diesem Augenblick durchzuckte sie die Erinnerung an den Netzgeist. Sollte es wirklich so gewesen sein, wie sie meinte, geträumt zu haben. Die Schwestern sahen wie Limone weiß wie ein Tischtuch wurde, und versicherten ihr, dass sie es doch nicht böse gemeint hätten. Limone stand auf, setzte sich schweigend auf einen Stuhl, der an der Schmalseite des Tisches stand. Kaum hatte Lavine die ersten Tasten gedrückt, als der Bildschirm wieder hell wurde und das gewünschte Bild zeigte. »Kannst Du bitte in meinem Postfach nachsehen, ob ich Nachrichten habe?«, bat Limone. »Kein Problem«, meinte Lavine und tippte sich in Limones Posteingang. »Ja, Du hast eine Mail. Willst Du wissen, was da geschrieben steht? Ich lese es Dir vor.« »Hallo Limone, noch ist es nicht an der Zeit für Dich. Du musst noch warten. Bis bald, Boldi.« »Was soll das heißen, wer ist Boldi? Hast Du einen neuen Freund?«, bestürmten die Schwestern Limone. »Äh, das kann ich Euch noch nicht sagen. Ich habe versprochen noch zu warten, bis ich es sagen darf«, versuchte sich Limone herauszureden. »Das ist gemein von Dir«, maulte Saline und es hätte nicht viel gefehlt, dass die ersten Tränen geflossen wären. »Na, wenn Du nicht willst, dann lass es bleiben«, ergänzte Lavine lächelnd und wandte sich wieder der Tastatur zu.
Limone verzog sich in die untere Etage, um weiteren Fragen aus dem Wege zu gehen.
Boldi, dachte sie. So also möchte er gerufen werden. Sicher ist das ein Name, der aus der vergangenen Koboldzeit stammt. Kobold, Boldi, das passt. Ich werde einige Tage warten, und wenn niemand zuschaut, werde ich versuchen, Boldi im PC zu finden.
Am Freitag fuhren die Eltern zum Wochenendeinkauf in die Stadt. Saline und Lavine fuhren mit, weil sie sich von ihrem Taschengeld etwas Flottes, vielleicht ein angesagtes T-Shirt, kaufen wollten.
Limone erkannte sofort die Gelegenheit sich mit dem Computer zu beschäftigen und erbot sich in der Zwischenzeit das Gemüsebeet vom Unkraut zu befreien und in der Küche das Frühstücksgeschirr abzuwaschen.
Diese Anwandlung von Fleiß erstaunte die Mutter. Sie freute sich darüber und versprach Limone etwas als Belohnung aus der Stadt mitzubringen.
Kaum war die Familie außer Sichtweite, als Limone in den Garten eilte, das Gemüsebeet vom Unkraut befreite und in der Küche in aller Eile das Geschirr abwusch. Noch völlig außer Puste lief sie nach oben, hockte sich an den Laptop und schaltete ihn an. Selbst nach einigen Minuten war kein Bild zu sehen. Der Monitor blieb schwarz.
Verzweifelt drückte Limone auf diese und jene Taste, doch ohne Erfolg. Entnervt schimpfte sie: »Du bist ein ganz bescheuerter Kasten und Du Boldi, bist auch nur eine Sinnestäuschung.«
»Da irrst Du Dich aber gewaltig«, tönte es leise, doch deutlich vernehmbar aus dem Lausprecher.
Wie von einem elektrischen Schlag getroffen, zuckte Limone zusammen. Dann erblickte sie auf dem Bildschirm die großen dunklen Augen in dem blassen Gesicht.
»Wielange willst Du mich noch quälen?«, entfuhr es Limone. »Ja, ich weiß. Ich habe Dich ein wenig zappeln lassen. Jetzt ist es an der Zeit, Dir ein wenig mehr über mich zu erzählen. Schau mir bitte in die Augen, damit ich sehen kann, ob Du mir auch gut zuhörst«, hörte sie Boldi flüstern. Limone rückte so nah wie möglich an das blasse Gesicht heran und schaute konzentriert in die unergründlich schwarzen Augen.
Boldi schwieg. Limone dachte noch, warum fängt er nicht endlich an zu erzählen, da sanken bereits ihre Augenlider herab und sie fiel in einen tiefen Schlaf, der eher einer Bewusstlosigkeit glich.
Als Limone nach einer Weile die Augen mühselig öffnete, erschrak sie. Dunkler Wald umgab sie. Die Bäume schienen bis in den Himmel zu reichen und als sie neben sich schaute, bemerkte sie, dass sie auf dicken Moospolstern lag. Farne, fast so hoch wie sie selber, versperrte die Sicht. Kein Laut war zu hören. »Hallo, wo bin ich, hört mich jemand?«, rief sie verzagt, doch der Wald verschluckte ihre Stimme wie Watte. »Nein, Du bist nicht allein«, ertönte eine Stimme hinter ihr. Sie hatte sofort die Stimme Boldis erkannt und drehte sich, fast schon erleichtert, um. So sehr sie auch in die Richtung schaute, aus der die Stimme gekommen war, konnte sie Boldi nicht entdecken.
»Hier bin ich, schau etwas tiefer«, befahl die Stimme. Dann, sie konnte es kaum fassen, sah sie Boldi in voller Lebensgröße. Obwohl sie noch kurz zuvor verängstigt die neue Umgebung gemustert hatte, brach sie nun in ein schallendes Gelächter aus. »Du bist also Boldi«, stellte sie amüsiert fest und schaute auf Boldi herab, der vor ihr stand. Aufgerichtet war er kaum so groß wie ein Dackel. Jetzt konnte sie ihn in aller Ruhe betrachten. Knorrig, wie die Wurzeln der umgebenden Bäume, ragten die Arme und Beine, dicht mit grünen Haaren bedeckt, die sehr den Moospolstern glichen, aus dem mageren, ebenfalls behaarten Körper. Sein Gesicht hingegen war glatt, bis auf einen kleinen Bart an seinem Kinn. Limone sah in die unergründlich schwarzen Augen und ihr Lachen blieb ihr im Hals stecken.
»Lach bitte nicht über mich. Wie Du siehst, reichte meine Macht aus, Dich hierherzubringen«, erinnerte Boldi Limone an ihre Lage.
»Wie soll es nun weiter gehen? Warum hast Du mich hierher gebracht?« verlangte Limone zu wissen. Sie setzte sich auf ein besonders dickes Moospolster und lehnte sich an einen Baumstamm.
»Nun, jetzt erzähle ich Dir die ganze Geschichte und Du wirst sofort alles verstehen«, begann der kleine Kobold und fuhr fort: »Vor vielen Hundert Jahren, lange bevor es die ersten Menschen auf der Erde gab, lebte unser Volk friedlich und zufrieden hoch im Norden. Wir lebten mit und von der Natur. Dann kamen die ersten Menschen. Sie rodeten unsere Wälder, töteten die Tiere, vergifteten die Luft und das Wasser. Unser Volk wurde immer kleiner und wir verkrochen uns in die letzten ödesten Bergregionen. Jetzt sind wir nur noch einige Dutzend. Es war abzusehen, dass es uns bald nicht mehr geben würde. Aus diesem Grund wurde eine große Versammlung einberufen. Nachdem der Älteste unsere Lage als fast hoffnungslos geschildert hatte, richtete er uns jedoch mit einer rettenden Idee wieder auf. Die Menschen verbringen viel Zeit an ihren Computern. Hier ist unsere Chance etwas für die Welt und selbstverständlich auch für uns zu verändern. Wie ihr wisst, haben wir die telepathische Fähigkeit in die Gedankenwelt der Menschen einzudringen. Von dort aus, und das haben wir bereits ausprobiert, ist es ein Leichtes in die Computer zu gelangen. Sie haben uns ganz einfach durch ihre Gedanken den Zugang zu den Computern geöffnet. So können wir mit ihnen Kontakt aufnehmen. Hier werden wir ansetzen und geeignete Personen heraussuchen, die uns helfen werden.«
Nach dieser langen Rede schwieg Boldi erschöpft.
»Und ich soll Euch nun helfen? Warum ich?«, fragte Limone erstaunt und zog ein Gesicht, als ob sie Essig getrunken hätte.
»Ja, wir hatten zuerst an deine Schwester Lavine gedacht, weil sie stets fröhlich, höflich und tierlieb ist. Dann aber schien sie uns nicht stark genug zu sein, diese Aufgabe zu bewältigen.« »Schönen Dank für die Ehre, aber ich denke nicht, dass ich Euch nützlich sein könnte«, wehrte sich Limone. »Zuerst, und damit Du siehst, dass wir eine gewisse Macht über Euch Menschen haben, verfüge ich, dass Du nie wieder so ein saures Gesicht machen wirst«, erwiderte Boldi voller Ernst, »und dann erhältst Du von mir die Fähigkeit, Dich in die Gedanken der Menschen hineinzubegeben. Deine Aufgabe wird sein, Dich mit aller Kraft für die Natur einzusetzen. Ich gebe Dir ein Beispiel: Ein Landwirt will sein Land für Erdölbohrungen freigeben. Die Folgen wären für die umliegenden Felder und Flüsse katastrophal. Du wirst Dich, wenn es mit den umliegenden Bauern zu Diskussionen kommt, unter die Menge mischen und mit Deinen Gedanken im Kopf des Landwirts ein Umdenken hervorrufen. Zum Schluss der Diskussion wird der Landwirt wie verwandelt sein und selbst erklären, den Plan aufzugeben.«
Limone hatte aufmerksam zugehört und fand die Idee, der Natur zu helfen, für wichtig und notwendig.
»Ich bin einverstanden. Vielleicht kann ich meinen Schulfreundinnen schon die Augen für einige Probleme mit der Natur öffnen«, meinte sie, und war sichtlich aufgeregt.
Boldi hatte lächelnd zugehört und war zufrieden mit Limone als neue Mitstreiterin.
»Wie bekomme ich Deine Anweisungen«, fragte Limone und Boldi antwortete grinsend: »Wir bleiben natürlich über Deinen Computer in Verbindung. Du musst nur absolut sicher sein, dass uns niemand überrascht, wenn wir uns unterhalten.«
Dann sah Boldi Limone mit den schwarzen Augen wieder so eindringlich an, dass es Limone schwindelig im Kopf wurde. Sie schloss die Augen und war augenblicklich eingeschlafen.
Am späten Nachmittag kam die Familie, mit vollen Einkaufstüten und vom anstrengenden Shopping restlos erschöpft nach Hause. Sie riefen nach Limone, doch sie antwortete nicht. »Vielleicht ist sie oben und versucht sich wieder am Laptop«, meinte Lavine und stampfte ins Obergeschoss. Dann rief sie oben vom Treppenabsatz: »Ja, wie ich mir gedacht habe. Sie liegt mit dem Kopf auf der Tischplatte vor dem PC und pennt tief und selig.« Nur mühsam, mit Schütteln und »Hey-wach auf Rufen«, gelang es der Schwester Limone aufzuwecken. »Na Du Schlafmütze, hast Du nach einer E-Mail von Deinem Boldi gesucht?«, neckte sie Lavine. Limone war noch sichtlich benommen, blickte verwundert um sich, streckte und reckte sich, gähnte ausgiebig und gab dann zu, dass sie leider vergeblich nach Boldis Nachricht geschaut hatte. »Hauptsache Du hast den PC nicht wieder abstürzen lassen«, griente Limone und verschwand nach unten.
»Das kann ich Dir versprechen. Das kommt nie wieder vor«, rief ihr Limone nach und lächelte geheimnisvoll.
Irgendwann fiel den Eltern und den Schwestern auf, dass Limone viel fröhlicher und aufmerksamer geworden war. Bei Gelegenheiten, an denen sie früher ihre saure Miene zur Schau getragen hatte, blieb sie gelassen und ausgeglichen. Sie erstaunte die Familie mit Berichten aus der Natur und wies auf die Gefahren hin, die selbst die Menschen betreffen würden. Als sie sechzehn Jahre war, marschierte sie bereits bei Umweltdemos mit und unterstütze Projekte, die sich mit dem Schutz der Natur befassten.
Ein wenig unheimlich kam der Familie dieser fast fanatische Eifer vor. Da sie jedoch erkannten, dass die von Limone verfolgten Ziele richtig und sicherlich auch notwendig waren, unterstützen sie ihre Tochter, wo es nur ging.
Limone freute sich bereits jedes Mal darauf, dem kleinen Boldi auf dem Bildschirm zu begegnen. Sie wuchs heran, studierte Biologie und hielt Vorträge. Sie war besonders daran interessiert, bei Tagungen als Rednerin eingeladen zu werden, wo Firmenvertreter Pläne vorstellten, die der Natur nur schadeten. Dann ließ sie ihren telepathischen Fähigkeiten freien Lauf und es gelang ihr oft, Zweifel bei den Vortragenden über den Sinn der Maßnahmen zu erzeugen. Sie freute sich dann ganz besonders, wenn sie Tage später aus der Zeitung erfuhr, dass das umweltschädigende Projekt vorerst nicht realisiert werden würde.
Dann dachte sie: Danke Boldi, das haben wir wieder gut gemacht!
© Dieter Kermas
Image: ©CaliforniaGermans
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans.
Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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