Der Traum
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
.Die Nase an der Schaufensterscheibe plattgedrückt, stand ich und starrte gebannt auf die im Kreis herumfahrende Eisenbahn. Mein Weg hätte mich nach der Schule stracks nach Hause führen sollen. Doch der Verlockung, bei Steinke & Krauss, dem führenden Geschäft für Märklin – Eisenbahnen, hineinzuschauen, war zu groß. So oft es ging, lief ich zu dem Laden, der sich von uns aus gesehen, auf der linken Seite der Rheinstraße, kurz vor der Kaisereiche befand. Dann stand ich dort und bewunderte die faszinierende Welt der Modellbahnen.
Zu Hause hatte ich eine kleine Anlage der Spur H0. Vater hatte sie von der Konfektionsfirma Ebbinghaus am Lauterplatz erworben, nachdem sie nicht mehr als Schaufensterdekoration benötigt wurde. Eine auf den Schienen einherwackelnde, stark bespielte D-Zug-Lok mit vier Personenwagen und mehrere Güterwagen stellten meinen Fahrzeugpark dar. Eine Rangierlok war mein größter Wunsch, um wenigstens einen kleinen Güterzug zusammenzustellen.
Wie gebannt sah ich auf die große Anlage, wo mehrere Züge gleichzeitig auf verschiedenen Gleisabschnitten fuhren. Ja und dort, auf dem inneren Schienenoval, zog die von mir so sehr bewunderte Tenderlok ihre Güterwagen. Es war die Lok mit der Bezeichnung TM 800, wie ich bald herausgefunden hatte.
Meinen Wunsch nach der Lok hatte ich Vater bereits vorgetragen. Doch so kurz nach dem Krieg gab es wichtigere Dinge, als die Lok zu kaufen. So blieb mir nichts anderes übrig, als sehnsüchtig in das Schaufenster zu schauen und mir auszumalen, wie schön es wäre diese Lok zu besitzen.
Hatte ich mir am Tage die Lok im Laden angesehen, träumte ich davon. In meinen Träumen besaß ich eine viel größere Anlage und viele Züge drehten ihre Runden. Die Träume waren so realistisch, dass ich noch im Halbschlaf glaubte, einen Wagen oder eine Lok in der Hand zu halten. Kaum war ich wach, war die Enttäuschung groß denn weder ein Waggon noch eine Lok befanden sich in meiner fest geschlossenen Hand.
Dann kam der Tag, an dem mir im Traum bewusst wurde, dass ich träume.
Darauf beschloss ich, beim nächsten Traum die Gelegenheit zu nutzen, um meine Traumlok mit in die Wirklichkeit zu retten. Die Nacht kam und tatsächlich erinnerte ich mich im Traum, dass ich träume.
Als ich die Eisenbahnanlage vor mir sah, nahm ich die kleine schwarze Lok sofort fest in die Hand und bemühte mich aufzuwachen. Es begann ein wirrer Kampf in meinem Kopf. Während ich von der Traumphase in den Halbschlaf hinüberglitt, verwandelte sich die Lok in meiner Hand. Sie wurde kleiner, drehte und wand sich, fast wie ein Lebewesen und war kaum noch zu spüren. Umso mehr schloss ich meine Faust, damit ich sie nicht verlöre. Selbst noch kurz vor dem Erwachen hatte ich das sichere Gefühl etwas in meiner Hand zu halten.
Dann öffnete ich die Augen und sah erwartungsvoll auf meine Hand. Ich hatte die Finger so fest zusammengepresst, dass die Knöchel weiß hervortraten. Ich wagte nicht die Faust zu öffnen, war mit doch in dieser Sekunde klar, sie würde leer sein.
© Dieter Kermas
Photo: Scoop Diamond Galleries
—————————————————————————————————————-
Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
———————————————————————————————————————-
.