Das Vau
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
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Vor langer Zeit erfand ein weiser Mann das Alphabet. Fast am Ende angekommen, schuf er das V und das V freute sich. Die Freude dauerte jedoch nicht lange. Mit Bestürzung sah es den nächsten Buchstaben, das W. Im Gegensatz zu ihm, stand dieses fest und sicher auf zwei Beinen und wirkte dadurch viel wichtiger. Das V war eine empfindsame Seele und grämte sich. Ich bin zwar etwas unscheinbar, aber listig dachte das V und hatte eine Idee. Das W ist immer nur ein W. Ich jedoch bin wandelbar und lasse euch gerne in eine Falle tappen. Ha, ihr könnt nicht einmal hören, ob ein Wort mit V oder F geschrieben wird, wie bei viel und fiel. Hin und wieder möchte ich jedoch als W ausgesprochen werden, wie in Klavier, Vase und Violine.
Eine weitere Aussprachefalle lauert auf euch, wo ihr versehentlich das V als W aussprecht. Dann wird aus Veilchen flugs ein Weilchen und aus dem Vetter ein Wetter. Valentin sprecht ihr sicher mit einen W aus. Das ist korrekt. Doch das sollte euch in Bayern beim Namen Karl Valentin keinesfalls passieren. Hier heisst es Falentin, himmelsakra noch einmal.
Als der weise Mann bemerkte, wie sehr sich das V über seine magere Gestalt ärgerte , gestand er dem V eine wichtige Aufwertung in der Sprache zu. So bekam das V mit “ver” eine eigene Vorsilbe. Das Vau war nicht länger vergrämt und verneigte sich vergnügt vor dem W. Bald darauf verliebte es sich in das benachbarte U und sie verlobten sich. Nach der Heirat versuchten sie, leider vergeblich, ein neues gemeinsames Buchstäbchen zu zeugen. Verbittert verschwand das U nach den Vereinigten Staaten und haust dort mit einem verwitweten U in wilder Ehe als “double u” zusammen.
Das verlassene Vau vergass alsbald sein verflossenes U und lebt seitdem glücklich vereint mit seinen Brüdern und Schwestern im vertrauten Alphabet.
© Dieter Kermas
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Photo: Pixabay.com———————————————————————————————————————–
Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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Eine herrliche Geschichte!