Der erste Tag
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
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Lange habe ich die Dunkelheit und die Enge ertragen müssen. Heute ist der Tag gekommen, an dem ich endlich die Sonne sehen werde. Noch etwas steifbeinig krieche ich meine Brutröhre entlang Richtung Tageslicht. Ein letzter Ruck mit dem Kopf durch die Erde und ich bin frei. Wo jedoch ist die Sonne? Trübes Licht flutet in meine Augen. Ich schaue nach oben. Eine schwarze Gewitterwolke steht genau über mir. Ein Windstoß wirft mich fast von den Beinen. Ehe ich begreife, was auf mich zukommt, trifft mich einer der ersten großen Regentropfen auf den Kopf. Ich knicke mit den Vorderbeinen ein. Schon platschen rings um mich her die Tropfen immer heftiger und bedrohlicher ins Gras. Gut, die Tropfen können mich nicht verletzen, dafür ist mein Käferpanzer viel zu hart, aber meinen ersten Tag auf der Erde habe ich mir erfreulicher vorgestellt. Oh, ich bitte um Verzeihung, ich vergaß, mich vorzustellen. Ich könnte meinen lateinischen Namen nennen, um sie zu beindrucken, aber im Volksmund heiße ich einfach nur Mistkäfer.
Ganz schwach erinnere ich mich noch an die Worte meiner Mutter. Am Tag, an dem sie mich als Ei in die Nesthöhle legte, rief sie noch im Weggehen „Kuno, verkrieche dich, wenn der Boden bebt und ein Schatten über dir schwebt.“ Sie hat sicher nicht den Regen gemeint. Der konnte es nicht sein, überlege ich. So mühe ich mich ein Stück weiter und beginne den nassen Stängel einer Schafgarbe emporzukriechen. Einige Zentimeter höher angelangt, habe ich einen guten Rundblick über die Wiese. Mir gefällt, was ich sehe. Im grauen Gewitterlicht bewegen sich massige Umrisse. Das sind wohl die Pferde, die meinen Lebensunterhalt ab heute bestreiten werden. Der Wind wird heftiger und mein Hochsitz schwankt bedrohlich. Mit aller Kraft klammere ich mich fest. Noch will ich meinen Platz nicht verlassen.
Bald hat der Wind die Gewitterfront vertrieben und erste Sonnenstrahlen durchbrechen die tief hängende Wolkendecke. Ja, das ist also die Sonne, auf die ich so lange gewartet habe. Wie hell und warm sie ist, denke ich. Die ungewohnte Helligkeit blendet meine Augen, sodass ich sie mit meinen Fühlern schützen muss. Dampfend steigt die Feuchtigkeit aus dem Gras in die Luft und ich beginne, bedächtig den Stängel nach unten zu krabbeln. In einem der großen Wassertropfen, der auf einem Blatt liegt, kann ich mich wie in einem Spiegel betrachten. Mistkäfer hin, Mistkäfer her, mit meinem glänzenden blauschwarzen Käferkleid sehe ich echt stattlich, fast wie ein Ritter mit Rüstung aus.
Unten angelangt überfällt mich urplötzlich ein Hungergefühl. Dort, wo ich die Pferde gesehen habe, dort wartet meine Mahlzeit auf mich. Wie mühselig ist es jedoch für einen Käfer durch den Grasdschungel voranzukommen. Vielleicht hätte ich von meinem Aussichtsturm lieber gleich in die Richtung fliegen sollen. Nach einer Stunde steigt mir der verführerische Duft von Pferdedung in die Nase. Sagen sie nur jetzt nicht pfui und schütteln sich. Dafür essen Sie Schnecken, lutschen Austern und in manchen Gegenden sollen Schafsaugen sogar eine Delikatesse sein. Wir hingegen halten Wiesen und Weiden sauber.
Endlich sehe ich vor mir einen großen, dampfenden Pferdeapfel. Nach dem alten Mistkäfersprichwort „Der Apfel fällt nicht weit vom Pferd“, bin ich mir sicher, im Käferrestaurant angekommen zu sein.
Heißhungrig mache ich mich über den Haferklops her. Nach der Mahlzeit fühle ich mich gestärkt, satt und zufrieden. Ich krieche unter einige Blätter, die der Wind auf die Weide geweht hat, und schlafe sofort ein.
Ich muss wohl sehr lange geschlafen haben. Als ich die Augen öffne, ist es spät am Abend. Verwundert merke ich, dass mein Magen wieder knurrt. Also auf, auf zum Käferrestaurant.
Von Weitem sehe ich, dass sich eine große Anzahl blauschwarzer Käferkameraden um den Dungballen versammelt haben. Nein, das muss ich mir nicht antun und mich um die Plätze balgen. Deshalb beschließe ich, kurzerhand loszufliegen, um mir ein eigenes Pferd zu suchen. Das mit dem Fliegen hört sich so locker an, aber für mich ist das eine gewaltige Kraftanstrengung. Selbst wenn ich endlich in der Luft bin und brummend im Tiefflug über die Wiese fliege, sieht das wenig elegant aus.
Die Dämmerung ging so rasch in die Nacht über, dass ich kaum die großen Umrisse erkennen kann, die vor mir auftauchen. Endlich am Ziel denke ich und lande etwas unsanft auf dem Boden.
Meine Freude auf ein leckeres Abendessen wird enttäuscht. Nur vertrocknete Dungreste liegen im Gras. Inzwischen sind meine Essenlieferanten aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Pech, dann werde ich eben hungrig schlafen gehen. Ich lege mich in eine Bodenmulde und schlafe sofort ein.
Aufgeschreckt werde ich am Morgen durch ein Erdbeben. So scheint es mir jedenfalls. Verkrieche dich, wenn der Boden bebt, hatte Mama noch gesagt, ehe sie verschwand.
Doch es ist zu spät, um sich zu verkriechen. Ehe ich mich versehe, platscht eine warme Ladung Kuhdung herab und begräbt mich. Augenblicklich ist es stockfinster und ich fühle mich wie ein Mensch in einer Fangopackung. Das grenzt schon an Zwangsernährung, geht es mir durch den Kopf, als ich mich durch den Spinat in die Freiheit arbeite.
Nun, man muss immer das Beste aus jeder Situation machen überlege ich und esse mich richtig satt. Geschmacklich gesehen gebe ich jedoch der Pferdekost den Vorzug.
Leicht verärgert über meine Wahl, auf dieser Weide gelandet zu sein, entschließe ich mich, zu meinen Pferden zurückzukehren.
Also rauf auf einen erhöhten Startplatz, der in diesem Fall der Stängel einer Distel ist, und losgeflogen. Die Richtung zu der Pferdekoppel hatte ich mir gut eingeprägt. In meinem Übereifer und der Vorfreude übersehe ich jedoch das Hindernis, das wie aus dem Nichts vor mir auftaucht. Ich fürchte in der nächsten Sekunde schon zerschmettert am Boden zu liegen. Doch zu meinem Erstaunen ist die Landung richtig sanft. So sanft, wie eben eine Landung auf einem pelzigen Pferdehintern nur sein kann. Erleichtert kralle ich mich ganz fest in das Fell. Zu fest, wie auch das Pferd in diesem Moment feststellt. Ehe ich mir überlegen kann, wie es weitergeht, fegt mich der Pferdeschwanz von meinem Landeplatz ins Gras.
Nun gut, dann werde ich wohl oder übel, meinen Weg zu Fuß fortsetzen.
So mühe ich mich mit meinen sechs Beinen von Grashalm zu Grashalm, um zum nächsten Käferrestaurant zurückzukehren. Der Wind kommt leider aus der falschen Richtung, sodass ich nur ab und zu einen kurzen Dufthauch erhaschen kann.
Und dann geschieht es. Vom Himmel schwebt rauschend ein Schatten auf mich herab. Ich denke nur noch an Mamas Worte, schließe die Augen und bin auf das Schlimmste gefasst.
Um nicht gesehen zu werden, ducke ich mich so tief es geht in Gras. Nichts geschieht. Als ich vorsichtig ein Auge öffne, stehen zwei riesige, rote Stämme vor mir. Das sind sicher keine Pflanzenstängel. Da bin ich mir sicher. Mir ist jetzt alles egal, nur weg von hier, denke ich und will an einem der roten Stämme emporkriechen, um von dort zu starten. Doch dann erfüllen sich Mamas warnende Worte. Wie ein Blitz schießt der Storchschnabel herab und packt mich. Dieser verdammte Vogel klemmt mich so fest ein, dass ich mich nicht mehr rühren kann. Seine Zunge beginnt, mich langsam in den Schlund zu drücken.
Den sicheren Tod vor Augen, erinnere ich mich, wie das große Pferd auf den Griff meiner hakenbewehrten Beine reagiert hatte. Sofort presse ich meine stahlharten Beine in das weiche Zungenfleisch.
Noch einmal schnappt der Schnabel zu, um mich zu zerquetschen. Vergeblich.
Plötzlich wir es wieder hell um mich und der Storch versucht mich, den Schnabel heftig schüttelnd, loszuwerden. Im hohen Bogen fliege ich genau in ein Mauseloch und bin gerettet. Schmerz durchzuckt meinen Körper. Erst jetzt merke ich den Verlust eines Beines und den eines Fühlers. Tapfer, wie wir blauschwarzen Ritter nun mal sind, werde ich mich auskurieren und in Zukunft Mutters warnende Worte noch mehr beherzigen.
© Dieter Kermas
Image: Pixaby.com
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subjectline “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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