Der Fotokarton
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
Es war Winter geworden und das nasskalte Wetter lockte mich nicht nach draußen. Da könnte ich endlich die alten Fotos aus dem Schuh- Karton herauskramen und sortieren, dachte ich mir. Der Inhalt des Kartons erwies sich als eine wahre Fundgrube.
Ach ja, da waren noch Fotos von einer Semesterfeier, die ich schon seit Jahren in ein Album kleben wollte. Dann fielen mir Urlaubsbilder in die Hand, auf denen ich mich fast nicht erkannte. So jung war ich mal? Muss ja ewig her sein.
Auf einigen Bildern sahen mich Menschen an, die ich nicht kannte. Das waren sicher Bekannte meiner Eltern. Ohne Gewissensbisse warf ich diese Fotos in den bereitstehenden Papierkorb. Je tiefer ich in den Fotobergen grub, desto stärker schlich sich eine Erkenntnis in meinen Kopf. Von diesen Fotos würde höchstwahrscheinlich keines den Weg mehr in ein Album finden. Dazu trug die moderne Technik mit der Digitalfotografie und dem Computer ihren Teil bei. Es war doch viel einfacher sich die Fotos auf den Rechner zu laden, um sie dann groß und problemlos auf dem Bildschirm zu betrachten. Das war die Lösung.
Die Fotos, die ich gedachte zu scannen, und so vor der Müllabfuhr zu retten, legte ich auf die linke Seite. Die Fotos, die ich noch mit einem zögernden Blick zum Papierkorb betrachtete, kamen nach rechts. Ich sortierte und sortierte. Der linke Stapel wuchs rasch. Doch auch der rechte Stapel war nicht wesentlich kleiner. Im Papierkorb waren nur wenige Bilder gelandet. Wenn ich weiterhin so unentschlossen mit dem Aussortieren war, wären Tage nötig, um alle Fotos in den Rechner zu scannen.
Also nochmal tief Luft geholt und den rechten Stapel mit den „Vielleicht-Fotos“ entschlossen durchgesehen, um so viel wie möglich in den Papierkorb zu werfen. So hielt ich dies und jenes Foto in der Hand, besah mir die Personen, den Hintergrund, und erinnerte mich plötzlich an den Moment, an dem dieses Foto aufgenommen wurde. Ach ja, da standen mein Cousin und ich auf der Anhöhe der Brenner-Passstraße. Mein Gott, waren wir da noch jung! Ich erinnerte mich noch, dass wir in unseren kurzen Hosen auf der Höhe des Passes jämmerlich gefroren hatten und Onkel Gustav baten schnell weiter in Richtung Italien zu fahren. Ein Seufzer und das Bild wanderten nach links. Die Zeit verging, und bei Lampenlicht setzte ich das Sortieren fort.
Das Ergebnis nach etwa vier Stunden:
Der linke, zum Scannen vorgesehene Stapel war fast um die Menge des rechten Stapels gewachsen. Im Papierkorb bedeckten die aussortierten Fotos knapp den Boden. Ich schalt mich einen unentschlossenen, gefühlsduseligen Menschen und schämte mich ein wenig. Doch was half es, der Fotoberg links war eine Tatsache und wartete nun darauf gescannt zu werden. So saß ich da, betrachtete die vor mir liegende Aufgabe, und entschloss mich, das Wort „Aufgabe“ wie folgt zu interpretieren:
Ich gab auf! Ich raffte die Fotos zusammen, warf sie wieder zurück in den Schuhkarton, der damit wieder zum Fotokarton wurde, und schwor mir hoch und heilig sofort nach Eintritt in die Rente, diese Niederlage abendfüllend in einen entschlossenen, von Gefühlen befreiten Sieg, umzuwandeln.
© Dieter Kermas
Picture: EuropeanFocus.com
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans.
Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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