Der Zauberkasten
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
Er war unscheinbar. Weder Farbe noch Form ließen erahnen, welche Werte sich in seinem Inneren verbargen. Das Wohl und Wehe der Familie hing jedoch davon ab, was er von Zeit zu Zeit preisgab.
Nur dem Vater oblag es, den Zauberkasten zu öffnen. Das tat er in aller Stille und sichtlich voller Anspannung. Er allein besaß den Schlüssel, den er stets sorgfältig verwahrte. Der Inhalt wechselte und er konnte nie sicher sein, ob er eine gute oder schlechte Nachricht enthielte.
Mit einer gewissen Unruhe wartete die Familie auf seine Rückkehr und schaute auf sein Gesicht, um bereits daran abzulesen, wie der weitere Tag verliefe. Sahen sie seine Mundwinkel nach unten gebogen, stellten sie lieber keine Fragen. Zeigten die Mundwinkel jedoch nach oben, bestürmten sie den Vater, er möge ihnen die gute Nachricht mitteilen.
Ab und zu geschah es, dass der Vater so früh zur Arbeit ging, dass keine Zeit blieb, sein Schicksal für diesen Tag aus dem Zauberbehälter zu erfahren. Dann bangte die Familie bis in den späten Abend, der Inhalt des Kastens möge ein Erfreulicher sein.
Nicht jeden Tag war der Zauberkasten gewillt, seinen Inhalt preiszugeben und der Vater schaute vergeblich in das tiefe Dunkel. Sollte er eines Tages von dieser Welt abtreten, bekäme sein ältester Sohn Tobias den Schlüssel, so wie sein Vater ihm den Schlüssel übergeben hatte. Selbst Tod und Leben vermochte der Kasten zu verkünden. Das waren die Tage, an denen die Familie die Schicksaltruhe, wie sie ihn heimlich nannten, voller Ehrfurcht betrachtete.
Die Jahre kamen und gingen und der Zauberkasten bestimmte wie eh und je ihr Leben. So war es auch an jenem grauen, nebelverhangenen Novembertag, als der Vater die Nachricht, die der Kasten für ihn bereithielt, zuerst nicht fassen konnte, denn an diesem Tag bedeutete die Nachricht großes Unglück für die Familie.
Mit kraftloser Stimme berichtete der Vater, er hätte heute seine Arbeit verloren und sie müssten nun von den Almosen des Staates leben. Warum nur hatte der Zauberkasten so eine existenzbedrohende Nachricht übermittelt? Tobias meinte, sie hätten vielleicht den Kasten nicht mit gebührender Achtung behandelt, oder ihn nicht genügend gepflegt. Sicher hatte er bereits viele Jahre brav seinen Dienst verrichtet, doch er sah immer noch wie neu aus. Daran konnte es wohl nicht gelegen haben.
Plötzlich stand der Vater auf und lief, nachdem er lautstark den Kasten für sein Unglück verantwortlich gemacht hatte, zum Zauberkasten und riss ihn aus der Verankerung. Mit zornrotem Kopf warf er ihn in hohem Bogen in die Mülltonne.
Am nächsten Morgen klingelte es. Tobias öffnete und ehe er fragen konnte, worum es ginge, sprach der Postzusteller: „Und wo soll ich jetzt die Briefe einwerfen?“
©Dieter Kermas
Image: pixabay.com
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subjectline “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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