Essays by Dieter Kermas – (Part 10)
.FLÜCHTLINGSTRECKS, ESSENSKNAPPHEIT UND EIN KLEINER BERNHARDINER
Dann war es wieder so weit. Bereits am 5. Juni 1945 wurden wir aus Bad Schwarzbach ausgewiesen. Der in russischer Schrift abgefasste Text der Ausweisung besagte, dass wir in unser » Heimatland « zurückkehren müssen.
Unser Weg nach Berlin führte nicht konsequent westwärts. Wir mussten große Umwege machen und oft sogar wieder Richtung Osten ausweichen. Die Flüchtlingstrecks bewegten sich in kleineren und größeren Trupps auf den Landstraßen. Manche hatte das Glück noch Pferd und Wagen zu haben, aber das waren nur wenige.
Die folgenden Erinnerungen sind einzelne, sicher für mich unvergessliche, kurze Ereignisse. So fand ich eines Tages einen kleinen, ganz jungen Hund, der von den Leuten mit den Füßen weggestoßen wurde. Er quietschte und verstand nicht, was mit ihm passierte. Ohne zu fragen, nahm ich ihn auf den Arm und brachte ihn zu uns. Mutter war nicht sehr begeistert über den Neuzugang, der ja auch verpflegt werden musste. Das mit der Verpflegung war eines der Hauptprobleme. Manchmal fanden wir ein Feld, wo die Saatkartoffeln noch nicht geplündert waren, und deckten uns damit ein. Sobald wir wieder ein Dorf erreichten, gingen wir sofort in die verlassenen Häuser, um etwas Essbares zu finden.
VERLASSENER BAUERNHOF
So fanden wir eines Tages einen kleinen Bauernhof, der wohl erst ganz kurz vor unserer Ankunft fluchtartig verlassen worden war. In der Küche, und daran erinnere ich mich noch wie heute, standen Teller auf dem Tisch, in denen sich noch das Essen befand. Die näheren Umstände dieser Tragödie werden wir nie erfahren, aber das Gesehene prägte sich mir ein. Da die Türen offen standen, hatten sich ein paar Hühner in den Räumen breitgemacht. Als ich ein Huhn vom Schrank scheuchte, entdeckte ich dort oben ein Ei, welches ich freudestrahlend Mutter brachte. Sie war gerade dabei die Kaninchen aus ihren Ställen zu befreien. Im Kuhstall schrien die Kühe, weil sie nicht gemolken waren und ihre Euter fast platzten, oder bereits Milchbrand hatten.
Wir hatten nicht viel Zeit und so machte Mutter die armen Viecher wenigstens von ihren Ketten los und jagte sie ins Freie. Beim Weiterziehen blickten wir noch einmal zurück, sahen die Kaninchen die frischen Löwenzahnblätter fressen und die Kühe, die unruhig hin und her liefen. Anfangs hatte ich vor dem Haus einen alten Mann bemerkt, der wie suchend durch die Gebäude schlich, aber dann hatte ich ihn nicht weiter beachtet. Mutter erzählte mir viel später, dass er ihr auf ihre Frage, was er suche, erklärte hatte, dass er eine Stelle suche, um sich aufzuhängen. Vielleicht war es sogar der Bauer dieses Hofes?!
DER KLEINE BERNHADINER
Meinen kleinen Hund hatte ich nun schon einige Tage mitgeschleppt. Nach dem Aussehen, mit seinen Schlappohren und seinem weißen Fell mit braunen und schwarzen Flecken, hätte es vielleicht ein Bernhardiner werden können. Er fraß und fraß, und Mutter hatte schon rechte Probleme, um ihn satt zu bekommen. So verwundert es wohl nicht, dass sie ihn gegen meinen Willen, und trotz meines Geheuls und Weinens gegen etwas Essbares eintauschte.
Am nächsten Tag, ich stöberte den Graben längs der Landstraße entlang, blieb ich stehen und traute meinen Augen nicht. Da hing, über die Zweige eines Busches hingeworfen, das blutige Fell meines kleinen Hundes. Ich wusste nicht, wie mir geschah und die Tränen liefen mir über das Gesicht. Ohne mich noch einmal umzudrehen, rannte ich so schnell ich konnte, weg von diesem grausigen Ort. Später zogen wir an dieser Stelle vorbei, das Fell war verschwunden, aber eine größere Familie kochte sich etwas in einem Topf an dieser Stelle. Lange war ich böse auf Mutter, bis ich später einsah, dass es nicht anders gegangen wäre.
EIN LAIB BROT
Wieder einige Zeit später, wir waren unterwegs alle Weile von umherstreifenden Russen angehalten, durchsucht und nach » Uri, Uri « gefragt worden, staute sich der Treck, weil eine Kolonne Lastwagen der russischen Armee sich einen Weg durch die Flüchtlinge bahnte. Nun ging es nicht weiter und die Lastwagen standen eingekeilt zwischen uns.
Nun kam wieder eine Szene, die ich nie vergessen werde. Ein paar weibliche russische Soldaten entdeckten mich, als ich ganz dicht an ihrem Lkw vorbeistrich. Schwupp, hatten mich zwei von ihnen gepackt und versuchten mich auf den Wagen zu ziehen. Mutter sah das, ließ alles stehen und liegen, schnappte sich meine in der Luft hängenden Beine und begann mich wieder nach unten zu ziehen. So wurde ich abwechselnd nach oben, und dann wieder nach unten gezogen.
Letztendlich siegte Mutter, als die Russinnen mich vor Lachen nicht mehr festhalten konnten. Der Spaß, den sie mit mir gehabt hatten, war ihnen ein großes Brot wert, das sie mir vom Wagen noch nachreichten.
(Fortsetzung der Serie am nächsten Sonntag)
.PHOTO Credit: Deutsches Historisches Museum Berlin Photographie 1945 © DHM, Berlin F 63/1482 – Flüchtende Mutter mit ihren Kindern
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