Gorgonzola
Es war im Jahr 1955, als Mutter meine Oma Toni aus einem Altenheim in Görlitz nach Westberlin holte.
Überglücklich, nun im Westen zu sein, bot Oma ihre Hilfe im Haushalt an. Abwaschen, verknotete Paketschnüre geduldig entknoten, und viele einfache Dinge erledigte sie, trotz ihrer starken Kurzsichtigkeit und der weitfort-geschrittenen Blindheit so gut es ging. Wenn Oma Toni Kartoffeln geschält hatte, blieb es nicht aus, dass Mutter die übersehenen Schalenreste und schwarzen Stellen anschließend nacharbeiten musste. Um Oma Toni nicht zu verletzten, tat sie es so, dass sie es nicht merkte.
Mein Vater liebte gutes Essen über die Maßen. So verwunderte es nicht, dass meine Mutter eines Tages voller Hochgefühl ihren, an diesem Tag besonders gelungenen, Einkauf auf dem Küchentisch auspackte und Oma Toni bat,die Sachen einzuräumen.
Die Abendbrotzeit war gekommen, und Mutter war schon ganz aufgeregt, wie Vater auf die, in dieser Zeit sicher als Rarität geltenden Delikatesse, einem Stück Gorgonzolakäse, reagieren würde. Frisches Brot, etwas Schmalz, ein Stückchen Hartwurst lagen alsbald auf dem Tisch. Dann wurde Vater noch eine besondere Delikatesse als Überraschung angekündigt. Da Mutter den Käse nicht sogleich in der Speisekammer fand, wandte sie sich an Oma Toni und fragte, wo der Käse sei. Oma Toni antwortete: „ Bei dem Käse hast Du nicht aufgepasst Adele. Da hat man Dir ein völlig verdorbenes Stück eingewickelt.“ Noch völlig ahnungslos fragte Mutter zurück: „Das verstehe ich nicht, ich habe mir das Stück doch selber ausgesucht und genau angesehen.“ Oma schüttelte nachsichtsvoll den Kopf und erwiderte: „ Was meinst Du, wie mühevoll es war, den ganzen schwarzen Schimmel herauszuschneiden, da ist nicht mehr viel übrig geblieben. Du musst schon besser beim Einkaufen aufpassen.“
Dann holte sie aus der Speisekammer eine Untertasse, auf der ein etwas dickerer weißer Rand und eine kleine Handvoll weißer Krümel lagen. Mutters Gesicht verfärbte sich bedenklich dunkelrot. Dann sank sie wortlos auf den Küchenstuhl nieder, nahm ihren Kopf zwischen die Hände und seufzte tief auf. Vater, der sich immer noch keinen Reim auf das Geschehen machen konnte, fragte: „Worüber redet ihr eigentlich?“Mutter zeigte auf die kümmerlichen Käsereste und sagte kaum vernehmbar: „Das war einmal ein Stück Gorgonzola.“
Vaters Gesicht war die Enttäuschung anzusehen. Er wandte sich an Oma Toni und versuchte ihr zu erklären, dass die schwarzen Stellen gerade das Besondere an diesem Käse sind. Oma meinte nur noch, dass man ihr das vorher hätte sagen sollen, und überhaupt hätte sie arge Zweifel, dass Schimmel eine Delikatesse sein könnte.
Obgleich ihr von keiner Seite ein Vorwurf gemacht worden war, nahm sie sich die Sache so zu Herzen, dass sie sich weigerte, einige Tage lang im Haushalt mitzuhelfen. Viele Jahre später löste das Wort Gorgonzola und die damit verbundene Geschichte stets große Heiterkeit aus.
© Dieter Kermas
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Photo: ©Chefkoch.de
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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