
Grenzkontrollstelle Drewitz
(Ein Erlebnisbericht von Dieter Kermas)
Heute, viele Jahre nach dem Fall der Mauer, erinnere ich mich lebhaft an eine Begebenheit, die ein bezeichnendes Licht auf die damaligen politischen Verhältnisse wirft. Wir feiern in diesem Jahr den 25. Jahrestag des Mauerfalls und die Geschichte hat sich wie folgt zugetragen:
Auf der Autobahn, die vom Berliner Funkturm zum Grenzübergang führte, war zur Ferienzeit jede Fahrspur besetzt. So auch heute. Das konnte wieder eine elend lange Warterei geben, dachte ich. Um uns die Wartezeit mit flotter Musik akustisch zu verkürzen, machte ich das Radio in unserem Käfer an.
„Mach bitte aus. Mir ist jetzt nicht nach Musik“, bat mich meine Freundin Eva sichtlich gestresst.
Wo hatte ich nur meine Gedanken?! Dass ihre Nerven vibrierten, war nicht verwunderlich. An diesem Tag hatten wir, nach vielem Wenn und Aber, beschlossen, gemeinsam durch die Zone (so wurde die DDR oft im allgemeinen Sprachgebrauch genannt) zu fahren. Wenn meine Beifahrerin immer noch auf der Fahndungsliste der DDR stünde, so hätte sie ganz gewiss, und sicherlich auch ich, ein großes Problem.
Ihre Familie war enteignet worden und die alteingesessene Tuchfabrik wurde zu einem DDR-Betrieb umgewandelt. Die Eltern und sie verschwanden für lange Zeit im Zuchthaus Bautzen. Einige Zeit nach der Entlassung gelang es der Mutter mit der Tochter, nach dem Westen zu flüchten. Vom Schicksal des Vaters ist bis heute nichts bekannt.
Kurz darauf erfuhren sie durch inoffizielle Quellen, dass sie beide auf der Fahndungsliste standen. Da sie ihren Wohnsitz in Westberlin hatten, war es ihnen nun nur auf dem Luftwege möglich, Westdeutschland zu erreichen. Die Jahre vergingen und sie wagten nicht, den Landweg zu benutzen. Eines Tages hörten sie von einer Organisation, die sich Informationen über diese Fahndungslisten verschaffen konnte. Je geringer der Grund für den Eintrag in die Fahndungsliste und je länger dieser Zeitpunkt zurücklag, desto wahrscheinlicher sei es, so argumentierte man in der Organisation, aus der Liste gestrichen zu sein. Doch darauf war kein Verlass, wie einige erfahren mussten, die sich auf diese Aussage verlassen hatten und festgenommen wurden.
Meter für Meter näherten wir uns der Kontrollstelle. Vor dem Kontrollgebäude fächerten sich die Fahrbahnen zu den einzelnen Abfertigungsstellen auf. Zur Ferienzeit waren bis zu acht dieser Stellen geöffnet. Ohne sichtbaren Grund schlossen die Grenzer manches Mal eine Abfertigungsstelle und öffneten eine andere. Dann winkten sie gebieterisch mit dem schwarz-weiß gestreiften Signalstab ein beliebiges Auto aus der Schlange und wiesen ihm die Richtung zur neu geöffneten Abfertigung. Alle Fahrzeuge, die dahinter standen, mussten nun folgen, bis der Volkspolizist meinte, die Schlange wäre lang genug. Dann war erst einmal Stopp und das Warten ging weiter.
Wir standen in der Schlange zum Tor drei.
Noch vier Fahrzeuge standen vor uns. Mit einem Seitenblick sah ich, wie Eva ein Taschentuch in den Händen hielt und zerknüllte. „Steck bitte das Taschentuch wieder ein und halte den Ausweis parat“, flüsterte ich. Ich flüsterte, weil wie üblich, ein Kontrollorgan an der Warteschlange vorbeischlenderte und in diesem Moment prüfend in das Innere unseres Wagens blickte. „Gib mir deinen Ausweis, du fängst garantiert noch an zu zittern“, bat ich. „Das geht nicht“, antwortete sie leise, „der Mann sitzt doch da rechts hinter der Luke“, korrigierte sie mich mit einem Blick nach vorne. Das hatte ich im Moment vergessen und gab ihr auch meinen „behelfsmäßigen“ Berliner Personalausweis.
Jetzt rückte ich bis zum Stoppschild vor und musste warten, bis eine Hand, die sich aus der Luke der Abfertigungsbaracke reckte, die Weiterfahrt anordnete. Die Hand winkte und ich fuhr vor bis zur Luke, hinter der sich das Kontrollorgan, dem die Hand gehörte, saß. Ich konnte das Gesicht meiner Freundin nicht sehen, als sie unsere Ausweise durch das Autofenster der Hand übergab. Als sie sich wieder zu mir umdrehte, war sie sichtlich blass und ihre Hände legte sie sofort in den Schoß. Vielleicht zitterten sie doch noch. Täuschte ich mich, oder glänzten einige Schweißtropfen auf ihrer Stirn?! Sicher lag das nur an der Sonne, die heiß auf das Dach der Abfertigungshalle brannte. Es dauerte einen Moment, dann durften wir auf einen Wink hin, ein paar Meter vorfahren und vor der Ausgabeluke warten. Unsere Ausweise wurden in der Zwischenzeit kontrolliert mit Fahndungslisten abgeglichen und durch ein Laufband zur Ausgabestelle weiterbefördert.
Es dauerte länger als sonst. So kam es mir jedenfalls vor. Wir sprachen kein Wort und stierten nur auf Luke Nummer zwei, wo wir unsere Ausweise zurückerhalten sollten.
Wenn jetzt ein Grenzbeamter an mein Fenster heranträte und mich zu einem abgesonderten Stellplatz leiten würde, wären wir aufgeflogen. Stattdessen fragte uns eine blond gelockte Grenzerin, mit kecken Schiffchen auf dem Kopf, nur noch durch die Öffnung in breitestem Sächsisch „Keine Kinder?“. Wir verneinten und sie reichte uns die Ausweise mit dem „Laufzettel“, einem extra Blatt, das mit den Ein – und Ausreisezeiten gestempelt wurde, zurück. Dann durften wir endlich weiterfahren. Uff!
Die ersten Kilometer sprachen wir kein Wort. So groß war die Anspannung, die erst langsam von uns wich. Jetzt lagen etwa dreihundert Kilometer Ostautobahn bis Übergang Rudolphstein/Hof vor uns. „Ich werde erst ruhiger, wenn wir durch sind“, waren die ersten Worte meiner Freundin. Mein „Ist doch bis jetzt alles gut gegangen“, hörte sich nicht sehr überzeugend an. Vielleicht brauchten sie nur etwas länger Zeit um die Fahndungslisten durchzusehen. So schlichen wir mit den vorgeschriebenen einhundert Stundenkilometern Richtung Westen. Heute hielt ich mich besonders genau an diese Geschwindigkeit, um keines Falls angehalten zu werden.
Wir fuhren ohne Rast durch bis zur Ausreisegrenzstelle. Unsere Anspannung hatte keineswegs nachgelassen. Jetzt trennten uns nur noch einige hundert Meter von der ersehnten Westseite.
Wieder hatte ich das Gefühl, dass die Kontrolle unserer Papiere besonders lange dauern würde. Doch das Gefühl trog. Mit einem „Gute Fahrt“, reichte der Grenzbeamte die Ausweise wieder zurück in Evas Hände. Die Ampel stand auf Grün und wir schlichen erleichtert mit den vorgeschriebenen zehn Stundenkilometern die letzten Meter bis zum Niemandsland. Nachdem wir auch den Westkontrollpunkt hinter uns hatten, fielen wir uns in die Arme und die Tränen, die sie nun vergoss, waren Tränen der Erleichterung und der Freude.
Nachtrag: Diese erste Durchreise durch die DDR wagte Eva erst, als die Bundesregierung und die DDR das sogenannte Transitabkommen 1972 unterzeichnet hatten. Jetzt mussten die Reisenden nicht mehr aussteigen und zum Beispiel Motorhaube und Kofferraum öffnen. Eben so wenig durften die Grenzbeamten nun verlangten, die Rückbank des Wagens anzuheben, damit sie nach versteckten Personen suchen konnten.
© Dieter Kermas
Photos: ©Dieter Kermas———————————————————————————————————————–

Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
———————————————————————————————————————-
.
Let us know what you think!