Honigbrötchen
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
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Neulich, genauer gesagt, am letzten Freitag, rief mich mein Patenkind Diana an: „Mama hat gefragt, ob du nicht am Sonntag zum Frühstück kommen möchtest?“, klang ihre helle Stimme aus dem Hörer. Ich sagte sofort erfreut zu.
Sie und ihre acht Jahre jüngere Schwester Stella waren mir ans Herz gewachsen. Diana war erst elf Jahre alt, doch sie diskutierte mit mir über Themen, über die ich, als ich in diesem Alter war, nicht einmal nachgedacht hätte.
So saßen wir am Sonntag am liebevoll gedeckten Frühstückstisch.
„Probiere doch mal unseren neuen Honig“, schlug Diana vor und reichte mir ein Glas über den Tisch.
„Oh, Waldhonig“, freute ich mich und betropfte damit mein Brötchen.
„Der ist besonders aromatisch“, stellte ich fest und fügte ergänzend hinzu, „den haben die Bienen sicher von Weißtannen gesammelt.“ Über meine Vermutung musste Diana lachen und sagte darauf:“ Du irrst dich, Tannen sind keine Blumen. Da finden die Bienen sicher keinen Honig, oder weißt du, woher sie den haben?“
Warum musste ich in diesem Augenblick den Besserwisser herauskehren? „Das kann ich dir erklären“, begann ich schulmeisterlich.
„Du hast recht, Tannen sind keine Blumen, aber es gibt auf den Tannen Blattläuse. Die saugen den Saft von den Tannen. Etwas später tropft dann der süße Saft hinten aus den Läusen heraus, und den lecken die Bienen auf!“
Ein durchdringendes „Iiieehh!“ von Diana ließ mich innehalten.
„Das ist Läusepusche!?“, rief sie angewidert und verzog das Gesicht voller Abscheu.“Davon will ich nichts mehr essen“, ergänzte sie und schob den Teller mit dem Honigbrötchen weit von sich.
„Läusepusche, Läusepusche!“, wiederholte Stella ohne Pause und klatschte dabei in die Hände.
„Nun ist es aber genug“, unterbrach Dianas Mutter ihre Tochter und warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu.
„Ich gehe davon aus, dass Waldhonig in diesem Hause nicht mehr willkommen ist“, stellte ich resigniert fest.
Um den Schaden zu begrenzen, erklärte ich: „Der Waldhonig ist aber besonders wertvoll, weil…“, weiter kam ich nicht, denn Diana unterbrach mich mit den Worten:
„Wenn der so wertvoll ist, dann schenkt dir Mama sicher das Glas und du kannst dann die wertvolle Läusepusche alleine genießen.“
Nun steht das Glas Waldhonig bei mir zu Hause in der Küche.
Irgendwie mag er noch so wertvoll und gesund sein, habe ich keinen gesteigerten Appetit auf diesen Honig.
© Dieter Kermas
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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