Im Schatten der Mauer
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
Wahrlich, das Leben auf der Insel im roten Meer hat unübersehbare Vorteile. Für uns Insulaner gibt es eine Zitterprämie von acht Prozent steuerfrei auf den Bruttolohn als Ausgleich für unser tapferes Durchhalten. Das Durchhalten ist gar nicht so schlimm, schirmt uns die Mauer doch perfekt gegen deren Erbauer ab. Jedenfalls schützt uns die Mauer sicherer als die Miniarmee der Alliierten.
In den Straßen rollt gemächlich der Verkehr. Keine Hektik, keine Staus. Fahren wir zum Einkaufen, finden wir freie Parkplätze und in den Kaufhäusern und Geschäften kein Gedränge.
Die Boulevardblätter sind froh, wenn sie über einen Autounfall oder einen kleinen Einbruch berichten können. Mord als Überschrift, davon träumen die Inseljournalisten. Nach einer Tat einfach schnell mit dem Auto die Flitze machen, kann der Täter nicht. Spätestens an der Grenze ist Schluss. So leben wir sicherer als anderswo in der Welt.
Die Mieten sind weit unter dem Durchschnitt vergleichbarer Städte und alle finden eine Wohnung für ihr Einkommen.
Die Wirtschaft läuft leicht gebremst vor sich hin und die Firmen tun sich nicht weh, weil sie sich untereinander den Kuchen teilen. Konkurrenz von außen ist kaum zu erwarten. Wer will schon freiwillig ins Berliner Getto. Die Zuzügler, egal welcher Herkunft, sind nicht sehr zahlreich und werden locker integriert. Und dann noch die, die lieber studieren, als den Wehrdienst abzuleisten.
Betrachten wir das Leben und Treiben in diesem Kleinkosmos genauer, stellen wir fest, dass es wie in einem Dorf zugeht. Nur nicht sofort alles Neue übernehmen, nur langsam bitte. Schau, wie die da in Westdeutschland ackern und hetzen, nicht mit uns. Das Dorfleben ist so um vieles gemütlicher und Geld für das Überleben sichert uns der Bund.
Ach, wegen der Grenze, das ist nicht so schlimm. Wenn wir mal durch die Zone fahren müssen, kennen wir die Spielchen der DDR-Grenzorgane seit Langem. Da regen wir uns nicht mehr auf. Das bringt nichts und wir zögen den Kürzeren. Nach der Kontrolle tuckern wir mit den vorgeschriebenen einhundert Stundenkilometern gemütlich über die fast leere Ostautobahn und fahren sogar nach Vorschrift da, wo die Blitzer lauern. Alles Erfahrungssache.
Glücklich und zufrieden mit dieser Erkenntnis legte ich mich schlafen.
Dann beginnt der Albtraum.
Die Mauer ist gefallen.
Die Menschen liegen sich vor Freude heulend in den Armen. Wir sind frei, hurra!
Wir sind wieder Hauptstadt.
Die Autofahrer stehen im Dauerstau, vor den Sozialämtern bilden sich Menschenschlangen, Spekulanten treiben die Mieten in unbezahlbare Höhen, niemand wagt sich mehr des Nachts durch einen Park zu laufen, Tag und Nacht heulen die Sirenen der Feuerwehr und der Polizei in den Straßen, No-go-areas entstehen, immer mehr Morde, fantasielose Hochhäuser machen Berlin gesichtslos wie andere Städte …
Schweißnass schrecke ich hoch.
Gott sei Dank, es war nur ein Traum.
Ich schau aus dem Fenster auf die Mauer … und fühle mich geborgen.
© Dieter Kermas
Photo: ©Dieter Kermas———————————————————————————————————————–
Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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