Nebelhörner
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
.Der Abend im Jugendklub war in die Nacht übergegangen und langsam wurde es Zeit, nach Hause zu gehen. In diesem Fall hieß es für Wilfried und mich, zurück zu den Eltern unserer englischen Brieffreunde. Bei einer vorangegangenen Reise nach England hatten wir zwei Familien kennengelernt, die Kinder in unserem Alter hatten. Wir versprachen, Briefe zu wechseln. Das war recht nützlich, da wir kurz vor dem Abi so nebenbei unser Englisch alltagstauglich erweitern konnten. Andere Abwechslungsmöglichkeiten als den Jugendklub gab es hier auf dem Dorf nicht. Bis London waren es so an die sechzig Kilometer und die Fahrverbindungen in der Nacht konnte man vergessen.
Jugendklub hin, Jugendklub her, irgendwann tauchten zu später Stunde Bierflaschen auf. Danach lief das für uns ungewohnte Billardspielen entschieden leichter. Nachdem wir uns abgehottet hatten und die Mädchen weder das fetzige „All Shook Up“ von Elvis noch das schmusige „Love Letters in the Sand“ von Pat Boone, erneut auf die Tanzfläche locken konnten, war uns klar, wir müssen langsam gehen. Wir verabschiedeten uns und traten den Heimweg an. Das heißt, Wilfried wurde von seiner Brieffreundin begleitet und ich stand alleine da, weil mein Brieffreund nicht im Klub erschienen war.
Es war stockdunkel und kein Mondlicht beleuchtete meinen Weg.
Die Richtung zu dem Haus hatte ich mir wohl gemerkt, aber der Nebel lag so dicht, dass ich kaum das Pflaster erkannte. Der Nebel wurde immer dicker, sodass ich mich sicherheitshalber an den Zäunen entlangtastete.
Dann griff meine Hand ins Leere. Was jetzt. Ich fuhr mit beiden Händen in der Luft umher, bis ich einen Draht in der Hand verspürte. Etwas tiefer war noch einer. Aha, jetzt ahnte ich, wo ich war. Am Tage hatte ich die Wiese gesehen, die nicht weit von dem Haus der Gastfamilie entfernt lag.
Wenn ich jetzt über die Drähte klettere und gerade über die Wiese laufe, so dachte ich, käme ich ganz in der Nähe des Hauses wieder auf die Straße.
Im Dunklen über unsichtbare Drähte zu klettern ist gar nicht so einfach. Mit dem rechten Fuß blieb ich hängen und landete unsanft auf dem Boden. Ich rappelte mich auf und ging forsch drauflos. Dabei war ich mir sicher, nicht gegen einen Baum zu laufen, da ich auf der Wiese am Tag keinen gesehen hatte.
Doch dann geschah es. Mit dem Knie stieß ich gegen einen großen weichen Gegenstand und mein Schwung war so groß, dass ich über das Hindernis fiel.
Ein lautes, empörtes Muhen dröhnte in meinen Ohren. Kaum stand ich, bekam ich von hinten einen Stoß, sodass ich erneut vornüber auf den Knien landete.
Meine Hände rutschten auf dem Boden aus. Kaum hatte ich mich mühsam aufgerappelt, als mich zwei warme Körper zu zerquetschen drohten. Ringsumher wurde gemuht und unruhig gewordene Kühe liefen aufgeschreckt durcheinander. Wohin, war mein Gedanke. Dann hatte der Mond ein Einsehen und beleuchtete die bizarre Szene. Um mich her tauchten Kuhköpfe mit Hörnern auf und verschwanden wieder im Nebel.
Nebelhörner rechts, links und hinter mir. Das beleidigte Muhen wollte nicht abebben. „Ganz ruhig, ich tu euch doch nichts. Ich bin kein Wolf“, so versuchte ich die Herde zu beruhigen. Es half nichts, denn sie verstanden kein Deutsch. Ab und zu tastete ich mich an einer Kuh entlang, bis ich mich an ihr vorbeidrücken konnte. Endlich erreichte ich die andere Seite der Weide und kletterte erleichtert wieder über die Drähte. Das war jedenfalls nicht die Wiese, die ich mir am Tag gemerkt hatte. Ich hatte mich restlos verlaufen.
Ein weiteres Herumirren brachte mich etwas später zur Hauptstraße des Ortes.
Nun konnte ich mich neu orientieren. Ja, da links lag der Friedhof und die Straße dahinter führte direkt nach Hause. Den Gedanken, den Weg über den Friedhof abzukürzen, verwarf ich sofort wieder. Mir reichten die auferstandenen Rindviecher.
Es bleibt noch anzumerken, dass ich zu Hause bereits erwartet wurde. Sichtlich erschüttert besah man meine mit Kuhdung verschmierten Hände, Knie und Schuhe und schickte mich umgehend zur Grundreinigung in den Waschraum .
© Dieter Kermas
Photo: ©ingridbrowning.com ———————————————————————————————————————–
Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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