Essays by Dieter Kermas – (Part 11)
.EINE VORAHNUNG
Tage später, wir waren nun bereits einige Wochen von Neustadt weg, erreichten wir einen größeren Ort. Für die Nacht suchten wir einen Schlafplatz. So liefen wir mit anderen Flüchtlingen suchend umher, bis sich die großen Hallen einer Fabrik als Nachtlager anboten. Nun, wer weiß warum, jedenfalls sträubte ich mich mit Händen und Füßen in diese großen, dunklen unheimlichen Räume zu gehen. Was blieb den Eltern übrig, als weiterzusuchen.
In einem Bauernhaus, es war bereits dunkel geworden, fanden wir noch einen Platz zwischen anderen Flüchtlingen, dicht gedrängt auf dem Fußboden eines Zimmers. Am nächsten Tag machte eine schreckliche Nachricht die Runde. In der Nacht waren betrunkene Russen in die Fabrik eingedrungen und hatten wahllos in die schlafende Menschenmenge geschossen, ehe sie von Offizieren festgenommen werden konnten. So gesehen hätten wir, ohne mein Gezeter, auch das Schicksal dieser Menschen erleiden können.
Auf dem weiteren Weg wurden wir, wie bereits erwähnt, ab und zu von Russen angehalten, und unser Gepäck wurde so stets leichter. An irgendeinem Tag hatten wir das erste Mal Glück, mit einem Zug mitfahren zu können. Besonders für Vater, der durch seine Behinderung kaum noch laufen konnte, war das ein guter Tag. Doch auch hier gab es wieder Momente, wo einem der Atem stocken konnte.
Wir hielten in einem Bahnhof. Mutter stieg aus und wollte für uns Wasser besorgen. Es dauerte und dauerte und sie kam nicht zurück. Zu Vaters Entsetzen pfiff die Lok zur Weiterfahrt und von Mutter keine Spur. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung, und Vater wollte bereits mit mir abspringen, als wir Mutter angehetzt kommen sahen, und wir sie, mit der Hilfe von Mitreisenden, in den Zug ziehen konnten. Unsere Hoffnung, mit dem Zug recht weit in Richtung Berlin fahren zu können, erfüllte sich nicht.
Einmal war der Zug in der Nacht angegriffen worden und blieb bis zum Morgen in einem Wald stehen. Später erreichten wir einen großen Bahnhof. Es war Nacht und in der Ferne sahen wir den roten Schein einer brennenden Stadt am Himmel. Hier mussten wir den Zug verlassen und wieder zu Fuß weitergehen.
DIE LETZTE ETAPPE
So erreichten wir nach mehreren Wochen, abgemagert und übermüdet, mit den letzten Habseligkeiten, es waren nur noch ein Rucksack und zwei Taschen übrig geblieben, die Stadt Görlitz. Unsere Hoffnung war, bei Frau Burckert, Tante Elses Mutter, für einige Tage bleiben zu können. Mutter merkte aber bald, dass wir nicht besonders willkommen waren.
Es begann damit, dass wir auf unsere Bitte um etwas Essen, die Antwort erhielten, es sei kaum zu essen da, bis auf ein wenig Brot und Margarine. Wie es der Zufall will, Frau Burckert war aus dem Haus gegangen, sah Mutter aus unserem Zimmerfenster schräg über den Hof genau in das offenstehende kleine Fenster der Speisekammer. Sie rief uns sofort zu sich, zeigte auf das Fenster und wir waren sprachlos, als wir die Regale sahen, die brechend voll waren mit verschiedenen Einweckgläsern, Büchsen, Brot, Steinguttöpfen und Flaschen.
Wenn Vater Mutter nicht festgehalten hätte, hätte sie sicher sofort die Speisekammer aufgebrochen. Vater hatte Mutter eindringlich gebeten, von unserer Entdeckung nichts zu sagen, war aber damit einverstanden, am nächsten Tag, obgleich er eine längere Pause benötigt hätte, weiter in Richtung Berlin zu gehen. Wir verließen die Stadt Görlitz am 29. Juni 1945. Ehe wir die ungastliche Stätte verließen, bat Mutter Frau Burckert, die Fuchspelzjacke aufzubewahren, bis wir sie wieder abholen würden.
Auch von Görlitz aus fanden wir keine Möglichkeit, mit einem Verkehrsmittel weiterzukommen. So liefen wir, mit wenig Gepäck belastet, weiter in Richtung Berlin. Wir erreichten die Stadt Cottbus. Hier blieben wir bis zum 4. Juli 1945. Doch es dauerte nicht lange, da machten sich die Strapazen der bisher zurückgelegten Wegstrecke bei Vater bemerkbar. Er konnte einfach nicht mehr vor Schmerzen weiter. Was nun? Wie so oft, ergriff Adele die Initiative, verschwand in einem zerbombten Industriegebäude und kam mit einer eisernen Schubkarre zurück. Zuerst wollte Vater es nicht wahrhaben, dass Mutter ihn damit transportieren wollte. Dann sah er endlich ein, dass dies im Moment die einzige Chance war weiterzukommen.
(Fortsetzung der Serie am nächsten Sonntag)
. Photo: picture-alliance / dpa (Vor 60 Jahren trat das Bundesvertriebenengesetz in Kraft) Picture of document: Author Dieter Kermas .———————————————————————————————————————————————

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