Schmetterling und Krokodil
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
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Wie vereinbart, stehe ich vor dem Haus Wielandstraße 43. Endlich habe ich Ferien und kann mit meinem Freund Wolfgang zur Fangexpedition aufbrechen. Das Schmetterlingsnetz hatte mir Mutter aus einer alten Gardine genäht, und ich habe es mit einem Haselnussstock ergänzt. Heute wollen wir zum Grunewaldsee fahren und Schmetterlinge fangen. Bereits im Alter von fünf Jahren ging ich dieser Leidenschaft nach und habe mir etliches Wissen angelesen und auch praktisch angeeignet.
Ich überlege mir gerade, ob es vielleicht günstiger wäre, nach Lübars zu fahren, weil dort die blütenreichen Wiesen mehr Jagderfolg versprechen.
In diesem Moment geht die Haustür auf und ein älterer Mann kommt auf mich zu.
»Guten Morgen«, grüßt er und ich antworte: »Auch einen guten Morgen.«
Vom Sehen kenne ich ihn schon lange. Früher war er sicher recht groß, aber nun hat ihn das Alter gebeugt. Sein scharf geschnittenes Gesicht ziert ein kleiner Kinnbart und sein Kopf wird von einem grauen, lockigen Haarkranz umrahmt. Er mustert mich forschend mit blauen Augen durch seine Nickelbrille, zeigt auf mein Fanggerät und sagt:
»Na dann wünsche ich dir viel Erfolg bei der Jagd« und im Nachsatz,» wenn du dich für Schmetterlinge interessierst, dann kannst du mich besuchen. Ich habe eine umfangreiche Sammlung.«
Da kommt Wolfgang aus der Tür, ich nicke kurz dem Mann zu und verspreche, zu kommen.
Wir begrüßen uns und meine ersten Fragen an Wolfgang sind: »Hat der wirklich eine Schmetterlingssammlung? Hast du die schon mal gesehen? Wie heißt er und in welcher Etage wohnt er? «
„Nun halt mal die Luft an«, unterbricht mich Wolfgang. »Sein Name ist Fritsche und mein Bruder war schon in der Wohnung im Zweiten. Er kam ganz begeistert zurück und erzählte von Tausend Käfern und Schmetterlingen, die er gesehen hat.«
Das muss ich mir unbedingt ansehen, denke ich und plane, Herrn Fritsche bereits am nächsten Tag zu besuchen.
Unsere Fangexpedition verläuft, wie bereits geahnt, nicht sehr erfolgreich.
Ein Distelfalter, ein großes Ochsenauge und ein kleiner Fuchs hauchen ihre Leben im Äther des Marmeladenglases aus. Nun mussten sie auf dem Spannbrett, fachgerecht ausgebreitet, trocknen und kommen danach in den Schmetterlingskasten.
Auf dem Rückweg, wir schieben unsere Räder mühsam durch den tiefen märkischen Sand, entdecke ich am Stamm einer Linde die ausgewachsene Raupe eines Lindenschwärmers. Das entschädigt mich für die magere Ausbeute. Für lebende Insekten habe ich stets eine kleine Pappschachtel mit. Mit einigen Lindenblättern als Wegzehrung wird die Raupe eingesteckt. Zu Hause kommt sie in den Anzuchtkasten bis zur Verpuppung. Sobald der Schwärmer dann geschlüpft ist, ereilt ihn leider das Schicksal seiner Artgenossen. Wolfgang ist nur mitgekommen, weil er unbedingt einige Runden im Grunewaldsee schwimmen will. Wir lehnen unsere Räder an einen Kiefernstamm und Wolfgang beeilt sich ins Wasser zu kommen. Mir ist heute nicht nach Baden und so liege ich in der Sonne und träume vom Besuch bei Herrn Fritsche.
Kaum ist das Frühstück beendet, hält mich nichts mehr. Ich flitze über die Hauptstraße in die Wielandstraße, nehme zwei Stufen auf einmal und stehe, nach Luft schnappend vor der Wohnungstür im zweiten Stock. Ich warte etwas, um mich zu beruhigen und drücke entschlossen den Klingelknopf neben dem Namensschild.
Die Tür öffnet sich und eine Frau mit Kittelschürze und straff zurückgekämmten Haaren, die in einem dicken Haarknoten enden, sieht mich fragend an.
Ich stottere: »Guten Tag, ich heiße Dieter und ihr Mann hat mir gesagt, ich könnte mir die Schmetterlinge ansehen.«
Sie lächelt und lässt mich eintreten. »Warte bitte einen Augenblick, ich sage meinem Mann Bescheid.«
Der Flur ist lang, dämmrig und ein ungewohnter Geruch hängt in der Luft.
Am Ende des Flurs geht eine Tür auf und Herr Fritsche kommt mir entgegen.
»Ich freue mich, dass du gekommen bist«, begrüßt er mich.
Er geht voraus in den nächsten Raum, einem typischen Berliner Zimmer, das das Vorderhaus mit dem Seitenflügel verbindet. Es ist sehr dunkel, ja, fast düster. Nur das Fenster, das zur Hofseite geht, spendet etwas Licht durch die trüben Scheiben. Eine rankende Grünpflanze hat auch noch einen Teil des Fensters zugewuchert.
Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Dämmerlicht.
Als ich mich umsehe, zucke ich erschreckt zusammen. Ein riesiges Krokodil mit aufgerissenem Rachen schaut mich von der Seitenwand an.
Dann bemerke ich einen Schrank, der die gesamte Länge der Wand neben dem Fenster einnimmt. Auf der Vorderseite sind schmale Schübe mit kleinen Schildchen.
»So, was willst du zuerst sehen?«, erkundigt sich Herr Fritsche. »Schmetterlinge aus Europa oder aus Afrika?«
»Oh, dann lieber zuerst die aus Afrika«, bitte ich. Er zieht einen der Schübe auf und ich sehe Schmetterlinge mit fantastischen Farben und Formen. Manche haben lange Schwänze an den Flügeln, während andere schillern und fast so groß wie meine beiden Hände zusammen sind. Schub um Schub wird geöffnet und mein Staunen nimmt kein Ende. Dann öffnet er in einem anderen Teil des Schrankes Fächer, in denen Käfer mit den bizarresten Formen zu sehen sind. Manche tragen den Kopf auf stängeldünnem Hals, während andere sich mit Anhängsel tarnen, die wie dürre Blätter aussehen.
Absolut begeistert bin ich von den Goliathkäfern, die in unterschiedlichen Arten zu sehen sind. Sie sind, wie der Name schon sagt, riesig, fast wie kleine Buletten mit Beinen.
Danach betrachte ich mir die europäischen Schmetterlinge. Er fragt nach diesem und jenem Falter und ich nenne die Namen und die Besonderheiten, wie Futter und Vorkommen. Zufrieden nickt Herr Fritsche über meine Antworten.
Am Fenster entdecke ich Terrarien mit Eidechsen, Fröschen und in einem der Behälter zwei Schildkröten, die ihren Salat beknabbern.
An der Wand, wo das Krokodil auf die Besucher herabstarrt, steht ein Bücherschrank mit Büchern in allen Größen.
Wir setzen uns an den großen, rechteckigen Tisch, der mit einigen Stühlen in der Raummitte steht. Frau Fritsche kommt wie aufs Stichwort herein und fragt, ob ich ein Glas Limonade möchte. Was ich dankend annehme. Für ihren Mann bringt sie eine Kanne Tee mit einer Tasse und Zucker.
Endlich habe ich Gelegenheit, meine Neugier zu befriedigen und frage, woher das alles kommt. Er erzählt, dass er im Auftrag der Regierung mehrere Forschungsreisen nach Afrika unternommen hat. Für einen Elfjährigen hört sich das so spannend an, dass ich wissen will, ob er auch gefährliche Abenteuer erlebt hat. Er schmunzelt, steht auf und zieht auf der linken Körperseite sein Hemd aus der Hose.
Ich blicke etwas erschreckt auf eine breite, weißliche Narbe die, so lang wie drei Hände, schräg über die Rippen verläuft. Er stopft das Hemd zurück, zeigt in Richtung der Zimmertür. Erst jetzt sehe ich das gewaltige Gehörn eines Kaffernbüffels, das über der Tür hängt.
»Ja, der war es, dem ich das zu verdanken habe«, erklärt er und schildert mir die Jagd auf das Tier, das ihm fast das Leben gekostet hätte.
Ich frage und frage und er erzählt und wird immer lebhafter dabei.
Ich habe vergessen, dass ich längst zu Mittag zu Hause sein sollte, und bedanke mich herzlich für die spannenden Stunden.
Er bringt mich zur Tür und als ich das Treppenhaus hinunterstürme, ruft er mir noch nach » und komm bald wieder.«
So kommt es, dass ich immer wieder Herrn Fritsche besuche. Er erklärt mir viele Zusammenhänge in der Natur und begleitet mich beim Schmetterlingsfang. Später erzählt er mir von einer Jagd auf Elefanten und, als ich neugierig frage, was er für ein Gewehr dafür gehabt hatte, geht er in den Nebenraum und kommt kurz darauf mit einem Blechkasten zurück.
Er öffnet und holt einen sichtlich schweren Gegenstand heraus. Nachdem er das Tuch, aufgeschlagen hat, lieget ein kastenförmiges, wie ein großes Schloss aussehendes Metallteil auf dem Tisch. »Was ist das?«, will ich wissen.
„Das ist das Schloss meines speziellen Gewehrs für Großwild, wie Elefanten, Nashörner und Büffel.«
»Und wo ist der Rest vom Gewehr«, will ich wissen.
„Der liegt leider im Wannsee«, seufzt er. »Als die Russen nach Berlin kamen, habe ich das Gewehr lieber weggebracht. Vielleicht hätten sie mich für den Waffenbesitz erschossen, wer weiß. Nur vom Schloss mochte ich mich nicht trennen, habe es ausgebaut und versteckt.«
Eines Tages muss ich mich von Herrn Fritsche verabschieden, weil wir nach Spandau umziehen. Ihm fällt der Abschied sichtlich genauso schwer wie mir. Er bittet mich, ihn ab und zu zu besuchen, wenn auch Spandau recht weit weg ist. Ehe ich gehe, bittet er mich noch kurz zu warten, geht zum Bücherschrank und übergibt mir ein dickleibiges Buch mit dem Titel „Die Schmetterlinge Mitteleuropas“. Ein fantastisches Nachschlagewerk mit vielen Abbildungen und ausführlichen Beschreibungen.
Ich könnte ihm vor Freude um den Hals fallen. Doch das verhindert der Respekt vor ihm.
So bedanke ich so gut ich kann und verspreche wiederzukommen.
Dieses Versprechen endet wie viele dieser Art. Ab und zu dachte ich daran nach Friedenau zu fahren, setzte es aber nie in die Tat um. Als dann eines Tages mein Freund Wolfgang anrief, um mir mitzuteilen, dass Herr Fritsche verstorben ist, tat es mir sehr leid, seinem Wunsch nicht nachgekommen zu sein.
Das Schmetterlingsbuch steht auch heute noch in meinem Bücherschrank und erinnert mich an diesen so klugen und liebenswerten Forscher.
© Dieter Kermas
Image: Pixabay.com
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subjectline “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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