
Der Dieb
(Eine Geschichte zum Nachdenken von Samantha Sam)
Frustriert geht Birgit an den dicht gedrängten Kleiderständern vorbei. Von der Decke rieselt beruhigende Musik, die von schlurfenden Schuhen auf dem Fliesenboden und dem Rascheln von Kunden, die sich durch die Stände wühlen, beinahe übertönt wird. Die eintönige Geräuschkulisse wird hin und wieder von kreischenden Kindern und dem Gezeter gestresster Eltern unterbrochen. Der Geruch von Schweiß und nasskaltem Straßenschmutz gemischt mit Lavendel-, Vanille- und Rosendüften verdichtet die Luft zu einer zähen Suppe.
Ich hasse Textildiscounter, denkt Birgit. Aber für Menschen mit meinem Einkommen bleibt ja nichts anderes übrig. Die Preise in einem der kleineren Läden, die hier mit den Discountern konkurrieren, sind für Birgit unerschwinglich. Das Einkommen einer Kellnerin bewegt sich heute zwischen der oberen Grenze der Armut und der unteren Grenze des mittleren Wohlstandes. Nicht genug um sich über steigende Mieten, den Kosten fürs Auto und den sonstigen Lebensunterhalt keine Sorgen machen zu brauchen, aber zu viel um wirklich als arm zu gelten. Dennoch hofft Birgit, sich hier mit einem neuen T-Shirt belohnen zu können, ohne Konzerne zu unterstützen, die Kinder für sich arbeiten lassen oder mittellose Wanderarbeiter in Sklavenverträge zwingen.
Endlich hat Birgit den Stand mit den T-Shirts gefunden. Hoffnungsvoll geht ihr Blick über die Stapel unterschiedlichster Farben und Muster. Zunächst registriert sie den schmächtigen Mann am gegenüberliegenden Stand kaum. Doch die verhaltenen Bewegungen und der hektische Blick des Mannes, der unauffällig die Umgebung sondiert, weckt Birgits Aufmerksamkeit. Der Mann ist etwa Anfang Zwanzig und trägt eine für diese Jahreszeit viel zu dünne Jacke. Die verschlissene Jeans hängt schlaksig an den schmächtigen Hüften. Er stöbert in einem Stapel T-Shirts und zieht schließlich eines heraus. Es gibt immer noch Menschen, denen es viel schlechter geht, denkt Birgit, als sie den Mann hinter der Trennwand zu den Umkleidekabinen verschwinden sieht. Wahrscheinlich kann dieser arme Kerl sich nur ein zwei Mal im Jahr ein neues Stück leisten.
Eine Stunde später hat Birgit den Mann völlig vergessen. Ihre ganze Aufmerksamkeit richtet sich auf einen Ständer mit buntbedruckten T-Shirts. Eines der T-Shirts sticht mit seinem warmen Orange heraus. Begeistert nimmt Birgit es vom Ständer und ist entzückt vom frechen Schriftzug, der quer über der Brust in geschwungenen Buchstaben steht.
Plötzlich mischen sich das Scharren und Poltern von hektischen Schritten und aufgebrachtes Gebrüll in die eintönige Geräuschkulisse. Zwei Männer in blauer Uniform hechten den Gang entlang in Richtung Rolltreppe. Sicherheitsleute! Sie jagen jemanden!
Birgit beschließt, ihre Neugier zu bezwingen, und geht auf kürzestem Weg zur Kasse. Vor ein paar Tagen hatte sie einen Film gesehen, in dem in einem U-Bahnhof Panik ausgebrochen war und hunderte von Menschen sich gegenseitig zu Tode quetschten. Zehn Minuten später erreicht Birgit die Drehtür des Kaufhauses und tritt erleichtert in den kalten Nieselregen. Ein Polizeiwagen steht rechts neben dem Eingang im Halteverbot.
Am nächsten Tag stand folgender Artikel in der Tageszeitung:
Ein 24-Jähriger ließ ein T-Shirt und Parfüm aus einem Geschäft im Regensburger Einkaufszentrum mitgehen.
REGENSBURG. Am Dienstag gegen 14.30 Uhr, wurde ein 24-Jähriger beim Ladendiebstahl erwischt. Das Personal stellte in einem Geschäft im Regensburger Donau-Einkaufszentrum vom Personal fest, dass er nach dem Verlassen einer Umkleidekabine ein unbezahltes T-Shirt unter seiner Kleidung trug. …
©Samantha Sam
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Samantha Sam – grew up in Mecklenburg Vorpommern. She now lives in a little, enchanting town called Lappersdorf by Regensburg. Since early childhood, she was devoted to writing, which served her well in her later profession as a communications specialist; even though writing there was business related rather than creative.
In her personal life, she has been writing speeches for weddings as well as birthdays of family and friends; speeches, that are still on everyone’s lips years after. Often family and friends encouraged her to devote more time to writing professionally. So, when her daughter left home, ‘the time was ripe’! Her passion for writing made her engage in her first novel, which she is in the process of putting on the finishing touches. She writes under her pen name “Samantha Sam”.