Das Nagetier
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
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Sitzen zwei Trolle auf einem bemoosten Felsen und betrachten das festliche Treiben unten im Tal. „Sie feiern das Mittsommerfest“, murmelt einer. „Das verstehe ich nicht“, sinniert der Zweite. „Sie wissen doch, dass die Tage jetzt kürzer werden und bald Schnee und Eis unser Land zudecken. Da lob ich mir die Wintersonnenwende. Da werden die Tage länger und die Sonne scheint bald wärmer.“
Ersterer schaut seinen Nachbarn an und bemerkt mit einem Grinsen: „Da sagst du nur, weil du seit zweihundert Jahren an Rheumatismus leidest.“
„Du kannst ruhig lästern,“ wehrt sich der Verspottete, „wenn ich dich so betrachte, hat der Zahn der Zeit auch an dir genagt. Schau dir deinen Bart an. Da ist mehr Moos drin als unsere Moosunterlage, ganz zu schweigen von deinen Augen, die man durch die Falten kaum erkennen kann.“
Der so Zurechtgewiesene schweigt eine Weile und meint dann bedächtig: „Du hast vom Zahn der Zeit gesprochen. Wenn ich es mir so überlege, gibt es kaum einen Zahn auf der Welt, der schärfer ist. Ich würde sogar behaupten, es ist der schärfste Zahn auf dieser Welt. Es gibt kein Lebewesen und kein Ding, an dem er nicht nagt. Denk mal an unseren großen Felsen, wo wir seit Jahrhunderten unsere Versammlungen haben. Der Felsen schien für die Ewigkeit gemacht. Er war so hart und glatt, dass es selbst uns nicht gelang ihn zu ritzen. Doch just vor zwei Jahren mussten wir sehen, wie sich ein Riss mitten durch unseren Stein zog. Ich bin mir sicher, dass er eines Tages in zwei Teile zerfallen wird. Es bedarf nur etwas Zeit.Diesem Nagetier entgeht niemand und nichts auf der Welt. Bedrückend, oder?“
Sein Nebenmann legt das Gesicht in noch mehr Falten und gibt zu bedenken: „Wenn das so ist, dann wäre es doch durchaus möglich, dass der Zahn der Zeit selbst unsere Erde zernagt?!“
„Wenn wir den Gedanken bis zum Ende verfolgen, dann wird es wohl so sein,“ stimmt der Angesprochene zu.
„Hast du nicht ein Beispiel, wo das Zeitnagetier mal was Gutes vollbracht hat?“, versucht dieser diesem Gedanken eine positive Wendung zu geben.
„Doch, habe ich,“ versichert der Moosbärtige verschmitzt lächelnd. „Vor ein paar Tagen traf ich einen Fuchs. Dieser berichtete mir freudestrahlend, dass er heute großes Glück gehabt hätte. Er wäre durch sein Revier geschnürt, als sein Bein plötzlich auf etwas Spitzes getreten sei. Als er nachgeschaut habe, sei ihm der Schreck in alle Glieder gefahren. Sein Fuß stand mitten in einer von den Menschen versteckten Schlagfalle.“
„Und wo ist da das große Glück?“, kam die Frage des Zuhörers.
„Das ist schnell erzählt“, fuhr ersterer fort. Der Zahn der Zeit hatte so lange an dem Eisen genagt, bis der Rost die ganze Falle überzogen und sie somit unbrauchbar gemacht hatte.“
Der zweite Troll rieb sich die Kartoffelnase, stand auf und schlug vor: „ auf das gute Ende der Geschichte sollten wir einen trinken. Wenn es dunkel wird und die Menschen müde vom Feiern schlafen, schleichen wir zu den Hütten und finden sicher etwas, womit wir anstoßen können.“
© Dieter Kermas
Image: Pixabay.com
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subjectline “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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