HÄUPTLING FLIEGENDER BÄR – (FORTSETZUNG)
(Eine Kurzgeschichte aus der Nachkriegszeit von Dieter Kermas)
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(…) Meine Nerz- beziehungsweise Wieselausstattung hatte Manfred augenscheinlich sehr beeindruckt. Anders kann ich mir die folgende Geschichte nicht erklären.
Einige Tage später trafen wir uns in unserer Höhle. Adlerauge zeigte uns voller Stolz sein Stirnband. Am Hinterkopf steckten drei schwarz-weiße Federn und im Band waren etwa vier Zentimeter lange Stücke der Stachelschweinborste eingesteckt. Wir fanden, dass es sehr echt aussähe, und lobten Adlerauge dafür.
Die Zeit verging, nur Gebrochener Pfeil ließ sich nicht blicken. Müdes Pferd erbot sich nach dem Rechten zu sehen und schickte sich an, die Höhle zu verlassen. Gerade hatte er den Kopf aus dem Loch gesteckt, als er uns zurief:
„Gebrochener Pfeil kommt gerade über den Schuttberg.“
Kaum hatte Gebrochener Pfeil Platz genommen, als Heulender Wolf laut rief: „Tapfere Krieger vom Stamm der Irokesen, Gebrochener Pfeil hat einen Hundesohn von Huronen in die ewige Jagdgründe geschickt!“ Bei den letzten Worten zeigte er auf den Gürtel von Gebrochener Pfeil. Jetzt sahen auch wir, dass am Gürtel ein echter Skalp baumelte.
„Ist der echt?“ flüsterte Müdes Pferd. „Wo hast du den erbeutet, rede schon,“ bedrängte ich ihn. Gebrochener Pfeil druckste noch etwas herum und begann dann zu berichten.
„Ihr kennt doch meinen Onkel, den Schneider Wessolek. Wie ihr vielleicht schon bemerkt habt, trägt er eine Perücke. Wenn es ihm im Sommer in seiner kleinen Werkstatt zu heiß wird, dann nimmt er kurz die Perücke ab und trocknet sich seine Glatze ab. Als ich vorgestern bei ihm in der Werkstatt eine Hose zum Ändern brachte, entdeckte ich in einem Regal weit hinten eine zweite Perücke. Heute, als ich die Hose abholte, ging er kurz nach hinten, um seinen pfeifenden Wasserkessel vom Herd zu nehmen. Das nutzte ich aus, schnappte mir die Perücke und stopfte sie unter mein Hemd. Er hat es Gott sei Dank nicht mitbekommen.“ Heulender Wolf sagte anerkennend: „ Der Mottenfiffi sieht wirklich Klasse aus. Wenn wir auf einen anderen Stamm treffen, werden denen die Augen aus dem Kopf fallen, garantiert.“
Heulender Wolf hatte Tage später von einem Verwandten einen schönen buschigen Fuchsschwanz geschenkt bekommen. Diesen hatte er hinten am Gürtel befestigt und betonte immer wieder, dass es kein Fuchsschwanz, sonder der Schwanz von einem Wolf wäre, den er erlegt hätte. Das Katschi, das aus seiner Hosentasche lugte war für einen Irokesen nicht ganz stilecht. Von seinem, aus einer Astgabel gebasteltem, Katapult trennte er sich jedoch nur ungern. Ich hatte mir meine Nerze umgebammelt und vollen Federschmuck angelegt.
Wir waren also alle gut und malerisch ausgestattet und wollten nun die Reaktion auf unser Aussehen bei den anderen Stämme herausfinden.
Am folgenden Dienstag trafen wir uns an der Haupt-Ecke Sponholzstraße. Dort begann das Gebiet der Huronen. Ihr Häuptling Tapferer Bär war bekannt, dass er gerne Streit suchte. Darauf waren wir nicht aus, zumal der Huronenstamm zwölf Krieger zählte.
Wir waren kaum über ein Ruinengrundstück Richtung Ceciliengärten gelaufen, als uns einige Pfeile um die Ohren flogen. Ein Glück trafen sie nicht. „Was wollt ihr feigen Kojoten in unseren Jagdgründen?“ hörten wir eine Stimme fragen. „Wir kommen in friedlicher Absicht,“ rief ich zurück und fügte hinzu „Wenn er ein mutiger Krieger ist, dann zeige er sich und verstecke sich nicht.“ Hinter dem dicken Stamm einer Kastanie trat sogleich der Häuptling Tapferer Bär hervor. Seinen Namen hatte er sich wohl deshalb ausgedacht, weil er einen alten Innenpelz aus braunem Schaffell trug. Diesen Pelz trug er mit der Fellseite nach außen. „Wie heißt euer Stamm und wer ist ihr Anführer?“ fragte er mit bewusst lauter Stimme. Ich trat einen Schritt vor und erklärte ihm, dass wir Irokesen sind und ich sei der Häuptling Flinkes Wiesel. „Ha, wie ich höre hast du sicher den Namen zu Recht und entziehst dich einem Kampf lieber durch flinke Flucht,“ höhnte er. „Ganz gewiss nicht,“ erwiderte ich, „aber wir suchen keinen Streit und möchten nur friedlich euer Gebiet durchqueren. „Habe ich mir doch gedacht,“ lästerte er weiter, „den Häuptling der Irokesen hat Manitou mit Feigheit geschlagen. Hat er den Mut sich im Zweikampf mit mir dem Tapferen Bären zu messen?“
Ich überlegte kurz. Tapferer Bär war etwas älter, dicker und sicher auch kräftiger. Würde ich mich mit ihm schlagen müssen, zöge ich den Kürzeren. Mir kam jedoch ein listiger Gedanke.
„Wie du weißt, können Bären und Wiesel gut klettern. Nun wollen wir sehen, wer am Schnellsten und am Höchsten klettert.“ schlug ich vor. Da ich den Vorschlag gemacht hatte, wollte er vor seinen Kriegern keinen Rückzug machen und willigte nach kurzem Zögern ein.
Zwei annähernd gleichgroße Kastanienbäume auf einem nahen Ruinengrundstück waren für den Wettkampf schnell gefunden. Wir stellten uns an die Bäume. Da die untersten Äste etwas zu hoch für uns ansetzten, musste jeder auf die Schulter eines Kameraden steigen, um den ersten Ast zu erreichen. Unter markerschütternden Schreien unserer und seiner Krieger stiegen wir Ast um Ast immer höher. Aus den Augenwinkeln belauerten wir uns beide. Dank seiner kräftigen Arme kam Tapferer Bär anfangs recht schnell voran und überholte mich. Das Triumphgeschrei seiner Mannschaft spornte ihn noch mehr an. Jetzt hatten wir das letzte Drittel des Baumes erreicht. Die Äste wurden dünner und mein Gegner stieg merklich vorsichtiger weiter. Nun kam meine Chance, weil ich leichter war. Ohne große Hast zog ich mich Ast um Ast höher. Der Stamm war hier schon recht dünn und schwankte bedenklich unter meinem leichten Gewicht. Doch Tapferer Bär wollte sich vor seinen Kriegern nicht blamieren und versuchte ebenfalls so hoch zu klettern. Ich hielt bereits Ausschau nach einer weiteren Möglichkeit höher zu steigen, als ein knackendes Geräusch mich herumfahren ließ.
Mir stockte wirklich der Atem, als ich sah wie der Tapfere Bär, mit den Armen hilflos rudernd, in die Tiefe sauste. Sein Bärenfell verfing sich beim Fallen an einem Aststummel, sodass Tapferer Bär kurz gestoppt wurde. Doch dann rutschte er aus dem Fell und fiel weiter nach unten. Das braune Schaffell hing malerisch im Baumwipfel und unsere Krieger krümmten sich vor Lachen. Doch bevor er auf den Boden aufschlug, hielt ein dicker Ast seinen Fall auf. Nun hing er wie eine gekochte Nudel über dem Ast und rührte sich nicht.
Atemlose Stille unter den Zuschauern. „Da drüben liegt ein großes Fass,“ rief ich, „holt es und versucht ihn damit zu erreichen.“ Einige Jungen stürzten los und rollten das leere Benzinfass unter den Baum. Sie stellten es auf und ein Junge kletterte hinauf. Er konnte die Beine von Tapferer Bär fassen und versuchte ihn vom Ast zu ziehen. In diesem Moment regte sich der Tapfere Bär und begann sich selbst aus der misslichen Lage zu befreien.
Vorsichtig halfen wir ihn vom Fass auf den Boden. Eine tiefe Schramme lief über seine Stirn und die Hände bluteten heftig. Er japste nach Luft. Vermutlich hatte er sich auch seine Rippen geprellt. Beide Parteien opferten ihre Taschentücher, verbanden damit seine Hände und tupften seine Stirn ab. Kaum dass er wieder atmen konnte, sagte er schnaufend: „Du hast gewonnen, begraben wir das Kriegsbeil.“ Ganz so leicht wollte ich ihn aber dennoch nicht davonkommen lassen und wandte mich an seine Krieger mit den Worten: „Es ist keine Schande, wenn der Tapfere Bär wie eine reife Pflaume vom Baum fällt, aber ich denke, dass ab heute sein Name „Fliegender Bär“ sein sollte.“
Der so umgetaufte Häuptling wollte protestieren, ergab sich dann in sein Schicksal und meinte grinsend: „Diesen Namen gab es sicher noch nie und ich werde ihn mit Stolz tragen. Hugh, ich habe gesprochen.“ Seine Worte wurden vom Zustimmungsgeheul seines Stammes begleitet. Indessen hatte einer seiner Krieger das Schaffell vom Baum geholt und legte es dem Häuptling um die Schultern.
„So, nun müssen wir nach alter Indianersitte die Friedenspfeife rauchen,“ schlug ich vor.
„Einverstanden,“ stimmte Fliegender Bär zu. Heulender Wolf wurde angewiesen entsprechendes Material zu holen. Ich flüsterte ihm ins Ohr, dass er in der Hähnelstraße neben dem Haus 14 an der Hauswand Wilden Wein finden würde, den wir nun benötigten.
Er nickte und sauste los. Nach etwa zwanzig Minuten kehrte er zurück und breitete auf dem Benzinfass eine Handvoll trockener Stängel vom Wilden Wein aus. Wir, die Häuptlinge stellten uns neben das Fass und suchten uns jeder einen schönen dicken Stängel aus.
Wie wir alle wussten, waren die Stängel innen hohl. Angezündet konnte man sie fast wie eine Zigarette rauchen. Das „fast“ betraf den beißenden Rauch, der uns alsbald hustend und nach Luft ringend die Zeremonie abbrechen ließ. Zufrieden über das friedliche Ende der Stammesfehde reichten wir uns die Hände und beschlossen ab heute gemeinsam gegen die anderen Indianerstämme zu kämpfen.
*****
Das freie Indianerdasein ist nur solange lustig, solange Manitou schützend seine Hand über seine Krieger hält. Bald beschlich mich das Gefühl, dass Manitou eingeschlafen war, oder uns nicht mehr seiner für würdig erachtete.
Gebrochener Pfeil ereilte als Erster ein herbes Schicksal.
Schneidermeister Wessolek wollte seine Alltagsperücke zur Reinigung und Aufarbeitung geben. Da er ohne Haupthaar jedoch seinen Laden nicht verlassen wollte, suchte er im bewussten Regal nach seiner Zweitperücke. Er und seine zur Hilfe herbeigeeilte Frau suchten und suchten, doch vergebens. Zuerst wurde Mohrchen, die dicke Hauskatze verdächtigt.
„Vielleicht hat die Katze deine Perücke weggeschleppt, um ihre Jungen darin großzuziehen.“ mutmaßte seine Frau. „Hör auf, so einen Blödsinn zu reden“, schnaubte ihr Mann. „Die ist in Menschenalter gerechnet so alt wie du mit deinen sechzig Jahren. Du bekommst doch auch keine Kinder mehr, oder?“
Das Manitou in diesem Moment gepennt hat, war sonnenklar. Gebrochener Pfeil wollte just an diesem Tag sein Leihskalp wieder zurückbringen. Herr und Frau Wessolek hatten ihre Suche auf die hinteren Räume ausgedehnt. Gebrochener Pfeil rief: „Ich bin es, Manfred und wollte nur fragen, ob Peter heute hier war.“ „Nein, war er nicht,“ klang die mürrische Antwort. Flink holte Gebrochener Pfeil den Haarersatz unter dem Hemd hervor und legte ihn ins Regal. Da trat Herr Wessolek in den Raum, blickte noch einmal verzweifelt auf die Stelle im Regal, wo sonst seine Perücke lag und erstarrte. Man sollte nicht glauben, wie schnell ein so alter Mann den Zusammenhang erkannte. „Du verdammter Lausebengel, dir werd ich helfen, meine Perücke zu klauen. Was hast du dir dabei gedacht? Deine Eltern werden sich wegen dieser Geschichte sicher sehr eindringlich mit dir befassen,“ drohte der Mann.
Alles Bitten und Betteln von Gebrochener Pfeil half nichts. Als er abends so spät wie nur möglich nach Hause schlich, erwartete ihn ein gehöriges Donnerwetter und vom Vater bekam er einen erzieherischen Katzenkopf, eine hinter die Ohren.
Als er uns von seinem Schicksal erzählte, dachte ich sofort an Mutters Nerze, die immer noch im Brotbeutel ganz hinten, unten im Wäscheschrank versteckt lagen.
An einem Sonnabend hatte ich wieder zu einem Kriegsrat einberufen. Hier wollte ich noch einmal in voller Indianermontur erscheinen. Mit dem Brotbeutel verließ ich die Wohnung, zog mich, wie immer im Hausflur in der Wielandstraße 43 um und eilte zu unserer Höhle auf dem Ruinengrundstück. Wie wir selbstkritisch feststellten, hatte unser Indianerspiel an Schwung verloren. Mit irgendeiner Ausrede fehlte mal Adlerauge, dann wieder mal Müdes Pferd und so weiter. Unsere neuen Helden hießen Tom Prox und Jerry Cotton.
Es gab eine kurze Diskussion, dann stimmten wir ab. Die Mehrheit war für die Auflösung unseres Stammes. „Okay,“ schloss ich die Versammlung, mit einem der von den Amis aufgeschnappten Worte und unseren Stamm gab es ab diesem Tag nicht mehr.
Auf dem Rückweg zum Hausflur, wo ich wieder die Fellbündel in den Brotbeutel stecken wollte, schaute Manitou wieder weg. Ein mit uns befreundetes Ehepaar kam um die Ecke der Hauptstraße gebogen und entdeckte mich. Es war zu spät, die Viecher vom Hals zu reißen, um sie in den Beutel zu stopfen und auch zu spät, um sich unsichtbar zu machen.
Sie starrten auf die Nerze und Frau Roggentin fragte sichtlich verblüfft: „Die hat dir deine Mutter erlaubt mit zum Spielen zu nehmen?“ „Nein,“ beichtete ich wahrheitsgemäß, „ich habe sie mir nur für heute heimlich ausgeliehen.“ „Na dann sieh mal ganz schnell zu, dass du sie wieder zurücklegst,“ entschärfte Herr Roggentin die Lage, wofür ich ihm wirklich dankbar war. „Wir werden es deiner Mutter nicht sagen,“ bekräftigte Frau Roggentin lächelnd.
Ich wollte bereits mit einem tiefen Aufatmen in den Hausflur flüchten, als mich eine Stimme erstarren ließ. „Ich sehe wohl nicht richtig,“ hörte ich hinter meinem Rücken die unverkennbare Stimme meiner Mutter. Sie hatte sofort die Situation erkannt und befahl mit bebender Stimme: „Ich muss noch einkaufen gehen und du gehst schnurstracks nach Hause. Das Weitere wird sich finden.“
Das Weitere fand sich, nachdem sie vom Einkauf zurückgekommen war. Als ich mich noch nach Indianerart tapfer verteidigte, beendete eine Knallschote, wie bei uns die Backpfeife hieß, die Strafpredigt.
Vater nahm die Sache nicht so tragisch. Als ich beichtete, dass eines der Glasaugen beim Spielen verloren gegangen war, ersetzte er es stillschweigend durch ein Teddyauge. Das war zwar sichtlich größer, aber Mutter hat es nie bemerkt.
Unsere Welt der Indianer war untergegangen und wir verschlangen die Geschichten unserer neuen Helden. Die Schmöker liehen wir uns wiederum aus der Bücherei des alten Mannes.
Ich sah uns bereits als Detektive oder Revolverhelden mit umgeschnallten Zündplätzchencolts die Gegend nach neuen Abenteuern durchstreifen.
(Ende der Kurzgeschichte “Häuptling Fliegender Bär” – End of the Story “Häuptling Fliegender Bär”)
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© Dieter Kermas
Image: ‘Lewis and Clark on the Lower Columbia’, Gemälde aus dem Jahr 1905 von Charles Marion Russell
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Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans.
Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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