Short Story / Kurzgeschichte by Dieter Kermas
.Wie hältst du das nur aus mit dieser schrecklichen Mauer?“, so hörte ich Tante Irmchen mit ängstlich, besorgter Stimme fragen. Der Anruf aus dem kleinen Dorf in der Nähe von Freiburg i. Breisgau war sicher wohlgemeint, und zeigte ihr Mitgefühl mit dem eingemauerten Neffen.
„Ich hätte sicher schon Depressionen, wenn ich Tag für Tag diesen Anblick ertragen müsste“, fuhr Tantchen fort. Ihre Anteilnahme an meinem Schicksal hörte ich bei jedem Anruf. Doch Gott sei Dank, beschränkten sich unsere Telefonate nur auf die Geburtstage.
Ich weiß heute nicht mehr, was mich in diesem Moment dazu verleitete zu sagen:„Tante Irmchen, ich lade dich hiermit ein, mich in meiner Mauerfestung zu besuchen.“ Heftiges Atmen auf der anderen Seite, dann „du meinst, ich soll dich in der DDR besuchen?“
„Nee, halt, Berlin liegt zwar in der DDR, aber ich wohne, wie du weißt, in Schöneberg, im amerikanischen Sektor, und nicht in der DDR.“ „ Ach ja, da komme ich immer etwas durcheinander“, entschuldigte sich Irmchen.
Nach harter Überredungsarbeit stimmte meine Tante der Reise zu, im Juli nach Berlin zu kommen. „Durch die russische Zone fahre ich aber nicht. Keine zehn Pferde bringen mich über diese Transitstrecke“, teilte sie mir mit energischem Ton mit. So einigten wir uns auf einen Flug nach Berlin – Tegel.
Am Tag ihrer Anreise stand ich, mit einem Blumenstrauß bewaffnet, am Ankunft – Terminal, und wartete auf meine Tante Irmchen. Dann entdeckte ich sie im Strom der ankommenden Fluggäste und eilte auf sie zu. Nach Blumenübergabe und Kofferempfang fuhren wir zu meiner Wohnung. Die Reise hatte sie wohl doch ein wenig angestrengt. Ich bemerkte, wie sich ihr Kopf mit geschlossenen Augen auf ihre Brust senkte, und tiefe Atemzüge ein Nickerchen kundtaten.
„Sind wir schon da?“, fragte sie, als ich sie weckte. „Ja, komm, wir bringen jetzt dein Gepäck nach oben und dann essen wir Abendbrot“, schlug ich vor, und meine Tante nickte zustimmend. Nach dem Essen unterbreitete ich ihr mein morgiges Besichtigungsprogramm. „Halt, halt, mir schwirrt der Kopf bei diesen vielen Orten, die du mir zeigen willst. Erkläre mir bitte alles morgen noch einmal“, bat sie, sichtlich von meiner Tour überfordert.
Am Morgen meinte es das Wetter gut mit uns, die Sonne strahlte, und Tante Irmchen war so aufgeregt, dass sie kaum das Frühstück anrührte. Meine Tour hatte ich, in Hinblick auf Tantchens Mauerphobie, so gewählt, dass wir an keiner Stelle der Fahrt die Mauer sehen würden.
Wir fuhren durch fast alle westlichen Bezirke und ich zeigte ihr unsere Sehenswürdigkeiten sozusagen von A bis Z. Zum guten Schluss nahm ich Kurs über die Havelchaussee und schlängelte mich rauf bis nach Heiligensee. Die Fahrt hatte bereits Stunden gedauert, als sich Tante Irmchen nicht mehr zurückhalten konnte und mit leicht nervöser Stimme fragte: „ wo ist denn nun endlich die Mauer?“
Auf diesen Moment hatte ich, ich gestehe, mit einiger Schadenfreude gewartet, und antwortete: „ Welche Mauer?“
Ich wollte den Bogen nicht überspannen und sagen, dass wir gar keine Mauer haben, also sagte ich: „Liebe Tante, wie du selber nach dieser langen Fahrt gesehen hast, kann man hier in Berlin gut leben, seinem Beruf nachgehen, zum Wannsee fahren, um zu baden, am Kurfürstendamm bummeln gehen, man kann stundenlang mit dem Dampfer fahren, im Grunewald Pilze sammeln, oder auf der Havel Wassersport treiben. Alles dies kannst du tun, ohne nur ein Eckchen von der Mauer gesehen zu haben.“
Erst als ich ihre fassungslose Miene sah, tröstete ich Irmchen mit den Worten:„Jetzt zeige ich dir deine Mauer, sonst fährst du nachhause, und schwörst deinen Bekannten, dass es in Berlin gar keine Mauer gibt.
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