Essays by Dieter Kermas – (Part 12)
.Ankunft In Berlin
Der Weg bis Berlin erschien den Eltern unermesslich weit zu sein. Wir kamen nun noch langsamer voran als vorher. Nach weiteren Tagen, Vater hatte sich soweit erholt, dass wir die Schubkarre stehen lassen konnten, erreichten wir am 23. Juli 1945 die Vororte von Berlin.
Endlich, so kurz vor dem Ziel, war uns das Glück gewogen, und wir wurden mit einem Pferdefuhrwerk bis nach Schöneberg, genauer gesagt, bis zum Innsbrucker Platz mitgenommen. Die letzten paar hundert Meter waren für uns fast schwerer zu ertragen, als die ganze Flucht. Stand unser Haus noch, oder war es den Bomben zum Opfer gefallen? Diese Frage bewegte die Eltern von diesem Moment an.
Langsam gingen wir auf der anderen Straßenseite in Richtung Hauptstraße 73. Von Weitem sahen wir mit Schrecken auf unserer Straßenseite Ruinen und Schuttberge. Erst als wir uns der Sponholzstraße näherten, sahen wir, dass es das große Eckhaus an der Hähnelstraße war, was dort in Trümmern lag. Auf der Seite von unserem Haus sahen wir ebenfalls eine Lücke, die sich beim Näherkommen aber, gottlob, nicht als unser Haus herausstellte. Die Lücke war drei Häuser weiter.
Russische Kommandostelle
Als wir unsere Wohnung betreten hatten, die Wohnungstür stand weit offen, weinten die Eltern vor Freude. Wir waren fast neun Wochen vom Sudetenland bis Berlin, bis auf eine oder zwei kurze Fahrgelegenheiten, gelaufen. Am nächsten Morgen sahen wir uns unsere Wohnung und die Einrichtung, beziehungsweise was davon noch vorhanden war, an.
Den schweren Behandlungsstuhl hatte man bereits bis in das Wartezimmer geschleppt. Im Herrenzimmer fehlten die Sessel und der Tisch und die Stehlampe. Der sehr große Smyrnateppich vom Herrenzimmer lag zusammengefaltet, fertig zum Abtransport in einer Ecke. Im Esszimmer hing eine Militär-Landkarte der Roten Armee an der Wand. In unserer Wohnung hatten die Russen einige Tage eine kleine Kommandostelle eingerichtet, wie uns später die Hausbewohner erzählten. An den Unterkanten der Tischplatte hatte man wohl die Hände vom Schmalzfleisch abgestreift, denn eine dicke Fettkruste lief um den ganzen Tisch. Im Patienten–WC steckte die Zeitung » Der Völkische Beobachter « im überfüllten Becken.
“Hausrussen”
Mutter lief erst einmal nach unten, um zu sehen, wer noch da war. Sie traf als ersten Max Schneider vor seinem leeren Bettenladen. Er sah Mutter ganz entgeistert an und stotterte dann: » Wir haben alle nicht mehr damit gerechnet, dass die Familie Kermas wiederkommen würde.« Ach, so lief also der Hase, dachte Mutter. Jetzt konnten wir uns auch ausrechnen, wo die anderen verschwundenen Sachen zu finden waren.
Am nächsten Tag kam der Nachbar von gegenüber und brachte den Herrenzimmertisch mit den Worten zurück: » Ehe die Russen ihn mitnehmen konnten, haben wir ihn lieber sichergestellt!« Tja, unsere eigenen »Hausrussen«, wie wir sie nun nannten, hatten schon gute Ausreden parat.
Die nächsten Wochen verbrachten die Eltern damit, das Chaos in der Wohnung zu beseitigen. Die Nachricht von unserer Rückkehr hatte sich in Windeseile herumgesprochen. Unaufgefordert kamen peu à peu die Nachbarn und brachten dies oder jenes » sichergestellte « Möbel, oder den einen oder anderen Gegenstand wieder zurück. Einiges Geschirr fand sich auch noch in den Schränken, obgleich die besseren Sachen verschwunden waren und auch blieben. Vom Buffet-Unterteil war die Türfüllung eingeschlagen worden. Vermutlich war die Tür abgeschlossen gewesen.
Das Leben Normalisiert Sich
Die Wand, die vorher zwischen Esszimmer und Berliner Zimmer gestanden hatte, sie war bei einem Luftangriff durch die Druckwelle zusammengestürzt, wurde durch eine Bretterwand ersetzt. Da die Zentralheizung nicht mehr funktionierte, sie lag im Keller unter dem ausgebombten Seitenflügel, wurden Öfen besorgt und in den Zimmern aufgestellt. Nach und nach wurden die mit Pappe zugenagelten Fenster wieder verglast. Die ersten Patienten stellten sich ein, und das Leben normalisierte sich, soweit man von normal in diesen Zeiten reden konnte. Meine Freiheit endete auch bald mit der Einschulung zum Winterhalbjahr 1945 in die 18. Volksschule in der Friedenauer Albestraße.
So hatte der im Mai 1945 in Neustadt begonnene, fast neun Wochen dauernde Irrweg zu guter Letzt ein glückliches Ende genommen. Die zeitliche Zuordnung der einzelnen Fluchtorte wurde möglich, nachdem ich im Nachlass meiner Eltern viele Dokumente aus diesen Jahren fand.
(Fortsetzung der Serie am nächsten Sonntag)
. Photos: Dieter Kermas personal collection, 1) Passierschein für Familie Kermas um mit Fahrrad/Handwagen Kottbus nach Berlin zu verlassen (“zurück” wurde darin gestrichen), 2) Ermächtigung des Tschechischen National Bezirk in Neustadt a.d.T. für die Abreise von Neustadt a.d. Tafelfichte nach Berlin . .———————————————————————————————————————————————

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