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Der Schneemann

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Der Schneemann

(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
 .

Schreie, Schnaufen und Flüchen begleiteten meine Geburt. Fast jedes Lebewesen kommt leichter auf die Welt als ich. Gestatten, ich bin ein Schneemann und noch namenlos.

Anfangs schweben meine Bestandteile als Schneeflocken vom Himmel. Wenn Sie so wollen war meine Mutter eine dicke, wintergraue Schneewolke.
Die Nacht über hatte uns meine Wolke auf der Erde zu einer dicken, watteweißen Schicht anwachsen lassen.
Meine vielen Tausend Einzelteile verteilten sich auf einer Wiese. Sie lagen auf einem Hang, hinter dem Haus von Familie Berger.
Meine Wolkenheimat am Winterhimmel wurde dünn und dünner, bis sie sich gegen Mitternacht fast aufgelöst hatte. Tschüss Mama!

Gegen Morgen, die Wintersonne hatte sich mühsam gegen einige Wolkenreste durchgekämpft, wurde die tiefe Stille durch das Quietschen einer Tür abrupt gestört.
Zwei Jungen rannten hurraschreiend über uns hinweg.
»Endlich hat es geschneit«, hörte ich einen rufen,» das ist genug für einen dicken Schneemann.«
In meinen Träumen, als ich noch bei Mutter Wolke wohnte, ahnte ich bereits, ich würde ein Schneemann werden.
Und dann begann meine Geburt. Anfangs, als die erste Schneerolle noch klein war, lachten die Jungs und waren guter Dinge. Nachdem der Umfang meines Bauches bereits die Größe einer Biertonne hatte, wurde es merklich leiser. Jetzt rollten sie meinen Leib bereits schnaufend, nur durch leises Fluchen unterbrochen, den Hang hinauf.
»Jochen pass auf!«, er rollt uns wieder runter«, schrie Axel »hilf mir bitte halten.«

Im Stillen grinste ich, war aus meinen vielen, federleichten Schneeflöckchen nun eine gewichtige Rolle geworden.
Mein unterer Teil wurde dem schrägen Hang angepasst und bald darauf hatten die beiden das Oberteil und meinen Kopf zusammengerollt. Zwei kräftige Arme vollendeten meinen Körper.
Abgeschlafft schlichen Axel und Jochen ins Haus.
Ich stand da und fühlte mich unfertig. Ich konnte nicht sehen, nicht riechen, nicht hören und hatte keinen Mund, um zu sprechen.
Meine Sorgen wurden nach einer Stunde behoben. Erholt und voller Elan steckten sie mir eine Möhre als Nase, zwei kleine Kartoffeln als Augen und einige Glasmurmeln als Zähne ins Gesicht. Selbst an die Ohren hatten sie gedacht. Es waren zwei ausgequetschte Zitronenhälften.
Axel betrachtete mich prüfend und meinte: »Er braucht noch einen Hut und am Bauch fehlen ein paar Knöpfe.«
Jochen hatte eine Idee und sprintete los. »Bist Du noch zu retten«, rief Axel bereit von Weiten, als er sah, was für mich als Hut gedacht war. »Das ist der Strohhut von Onkel Peter, den hat er hier im Sommer liegen lassen.«
»Ich glaube nicht, dass er sich daran noch erinnert«, verteidigte sich Axel und stülpte mir den Hut auf den Kopf. »Wenn er ihn suchen sollte, dann sagen wir halt, dass er leider von unserem Hund Hasso zerfleddert wurde«, beruhigte er seinen Bruder.

Die Frage nach den Knöpfen regelte Axel, indem er eine weitere Möhre holte, in Stücke schnitt und mir in den Bauch und die Brust drückte.
»Der sieht richtig klasse aus«, resümierte Axel und betrachtete mich von allen Seiten.
»Finde ich auch, aber«, und dabei stellte sich Jochen vor mich hin, wiegte den Kopf von einer auf die andere Seite »wir sollten ihm einen Namen geben.«
»Was hältst Du von Bonzo?«, schlug Axel vor. »Nee, er sieht viel zu elegant aus, um Bonzo zu heißen«, wehrte Jochen ab.
»Und wenn wir ihn nun `Sir Henry` nennen«, meinte Axel. »Das passt«, stimmte Jochen zu und machte grinsend einen tiefen Diener vor Sir Henry.
Wäre ich ein Luftballon, platze ich in diesem Moment voller Stolz, dachte ich und versuchte noch aufrechter dazustehen.
»Jungs kommt rein, Essen ist fertig«, tönte es vom Haus her.

Jetzt war es wieder still im Garten. Die Kälte reichte aus, sodass ich mir keine Gedanken um meine Feindin, die Sonne, machen musste. Sie lächelte mich freundlich von oben herab an. Davon ließ ich mich jedoch nicht täuschen. Sobald mein Freund, die Kälte, schwächer würde, würde sie mich erbarmungslos zu Wasser schmelzen lassen.
Ich stand da, überlegte, wie lange mein Schneemannleben dauern könnte und hoffte auf viele Tage Frost.
Aus meinen Gedanken riss mich ein fröhliches Gejohle. Die Jungen kamen aus dem Haus gestürmt, rannten dicht an mir vorbei, wobei sie sich beide kichernd mit »Hallo Sir Henry«, vor mir verneigten und schlitterten zu einem tiefer liegenden Teil des Gartens.

Da ich in dieser Richtung stand, konnte ich verfolgen, was sie vorhatten. Zu meinem Erstaunen begannen sie erneut, Schnee zu großen Kugeln zu rollen. Wollten sie etwa noch einen Schneemann bauen?, dachte ich verstört. Das war mir absolut nicht recht, dachte ich doch, als Sir Henry, der Erste und Einzige weit und breit zu sein.
Misstrauisch verfolgte ich das weitere Anwachsen meines Konkurrenten.
Die beiden arbeiteten, was das Zeug hielt. Jetzt wurde mir klar, warum sie weiter unten angefangen hatten zu bauen. Dort war der Boden nicht schräg, und so konnte sie sich die Mühe, die Schneekugeln den Hang hochzurollen, sparen.
Die Figur wurde größer und größer und ich immer unruhiger. Als der Schneemann bereits groß und fast fertig dastand, konnte ich bis zu mir hinauf Axel hören, wie er kichernd zu bedenken gab: »Die sind aber viel zu groß, aber sehen echt cool aus.«

Die Sonne blendete mich derart, dass ich nicht genau sehen konnte, was Axel zu bedenken gab. Die Buben rannten abwechselnd zum Haus und brachten allerlei Gegenstände, um die Figur zu ergänzen. Wollen die etwa den alten großen ausgedienten Lampenschirm der Figur anlegen?, dachte ich. Tatsächlich, sie hatte an einer Seite den Schirm aufgebogen und hatten ihn nun um den unteren Teil des Schneemannes gelegt. Schneemannes? Jetzt, da die Sonne mich nicht mehr blendete, traute ich meinen Augen nicht. Die Bengel hatten eine Schneefrau erschaffen. Eine Wohlproportionierte, wohlgemerkt. Der Lampenschirm machte sich gut als Röckchen und die Kunsthaarperrücke vom Fasching, in leuchtendem Rot, standen meiner Schneefrau Spitze. Sagte ich „meiner Schneefrau“? Ich war überzeugt, dass die Jungs mir eine Partnerin zur Seite stellen wollten, damit ich nicht so einsam sein sollte. Rührend!
Sie hatten die Frau so aufgebaut, dass sie zu mir den Hang hinauf sah.
Dann kam die Abendbrotzeit und Axel und Jochen verschwanden im Haus.

Ich besah mir die Schneefrau nun in Ruhe und stellte fest, dass ihre Nase ebenfalls eine Möhre war. Die Augen jedoch bestanden aus zwei großen, kräftig roten Radieschen und der Mund leuchtete knallrot durch viele kleine Radieschen. Zusammen mit den roten Haaren ergab das eine rassige Schönheit. Ich kann es nicht leugnen, ich war sofort und bedenkenlos in sie verknallt.
Der Abend kam und hüllte uns in tiefe Dunkelheit. »Hallo«, rief ich leise. »Darf ich mich vorstellen, ich bin Sir Henry.« Meine Worte klangen leicht klirrend durch die Glasmurmeln. »Wie heißt Du?«, setzte ich nach. Ganz leise und zart hörte ich sie flüstern: »Der eine Junge hat mich `Lady Pie` getauft. Ich weiß nicht was das bedeutet, aber es hört sich nett an.« Oh, diese Bengel! Torte, Obsttörtchen, haben sie meine Schneefrau genannt, dachte ich und erklärte ihr, dass der Name etwas sehr „Süßes“ bedeutete. Da freute sie sich und war stolz auf ihren Namen Lady Pie.

Sie hatte so leise gesprochen, dass ich die Worte nur mühsam verstehen konnte.
»Kannst Du nicht etwas lauter sprechen?«, bat ich,»ich habe Dich fast nicht verstanden.«
»Ja, ich versuche es jetzt einmal«, rief sie und dann hörte ich einen leisen Schrei.
»Was ist passiert?«, fragte ich besorgt. »Mir sind zwei Radieschen von meinem Mund abgefallen, weil ich ihn so weit aufgemacht habe«, erklärte meine Schneefrau, und fuhr fort: »Wie schön wäre es, wenn Du näher bei mir sein könntest, dann würde ein Flüstern ausreichen.«
»Leider hat man uns keine Füße gegeben«, klagte ich.
Die Nacht über flüsterten wir über unser Schicksal, wenn es wärmer würde . Gottseidank werden wir zu Wasser und sind somit unsterblich, tröstete ich sie. Dann beginnt der Kreislauf von Neuem, und wenn wir großes Glück haben, werden wir in vielen, vielen Jahren wieder zu einem Schneemann und einer Schneefrau.

Der Winter meinte es gut mit uns und es blieb frostig über Nacht. Am Tag begrüßten wir jede Wolke, die unsere Feindin, die Sonne, von uns fernhielt.
Doch Anfang März schlug das Wetter um, der Winter begann seine Kraft zu verlieren und die Sonne sandte erbarmungslos die ersten kräftig warmen Strahlen auf uns herab.
Noch ging es uns gut, wenn ich davon absehe, dass eine vorwitzige Krähe sich auf meine Nase gesetzt hatte und die Hälfte davon in Stücke gepickt hatte.
Lady Pie meinte, ich würde jetzt sogar besser aussehen, da die Möhre vorher viel zu lang war. Darüber war ich froh, hatte ich mich doch bis über beide Zitronenohren in Lady Pie verliebt. Es dauerte nicht lange und Lady Pie gab zu, auch mich ins Herz geschlossen zu haben.
Die Sonne gewann immer mehr die Oberhand, an einigen Stellen lugte bereits das Gras aus dem Schnee und irgendwie, begann auch ich an Gewicht zu verlieren.

Dann kam das Wochenende und Familie Berger machte einen Ausflug zu Verwandten, wie ich aus den Gesprächen der Jungen entnommen hatte.
Die Sonne schien vom frühen Morgen an mit aller Kraft und die Luft war warm, fast wie im Sommer. Mir war klar, das könnte unser Ende bedeuten.
Zuerst traf es meinen Mund. Die Glasmurmeln waren zu warm geworden und lösten sich aus dem Schnee. Ehe ich alle verloren hatte, rief ich noch verzweifelt: »Halte durch, ich komme zu Dir!« Dieses Versprechen durfte ich mit gutem Gewissen geben, weil ich merkte, wie der Schnee an meinem untern Ende zu schmelzen begann und ich sachte, aber unaufhaltsam den Hang hinabrutschte. Immer schneller rutschte ich und ich sah bereits die Katastrophe kommen. In wenigen Minuten würde ich auf meine geliebte Schneefrau prallen und sie umreißen. Auch sie sah, wie ich auf sie zuglitt und rief »Komm, es gibt kein schöneres Ende, als mit Dir vereint zu sein!«

Eine Sekunde lang, bevor sich unser Schicksal erfüllen sollte, konnte ich sie ganz nah sehen und küsste sie mit meinen verbliebenen Murmeln auf ihre Radieschen. Ihr geliebtes Gesicht war das Letzte, was ich sah. Der Anprall war so heftig, dass meine Kartoffelaugen in hohem Bogen davonflogen und unsere Leiber einen wirren Schneehaufen bildeten. Wir waren vereint, so wie wir es uns gewünscht hatten.

Als die Jungen zwei Tage später vom Ausflug zurückkamen, standen sie grübelnd vor einer großen Pfütze, in der ein Strohhut, eine Perrücke und einige Gemüsereste schwammen. Sie konnten nicht ahnen, welch eine große Liebe hier ihr tragisches Ende gefunden hatte.

 

© Dieter Kermas

Image: ©CaliforniaGermans

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Mauerspecht – März 1990,©Dieter Kermas

Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. (You can find the stories here on CaliforniaGermans.com by putting “Dieter Kermas” into the Search Box.) Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans.

Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.

To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com

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