Als ich im Gefängnis war
(Eine Kurzgeschichte von Dieter Kermas)
.Für die Zeit bis zum Beginn des Studiums hatte ich mich als Praktikant bei einer Heizungsfirma verdingt. Ich hockte vor einem großen Zeichenbrett wie drei Zeichnerinnen, die hinter mir an der Fensterfront saßen. Unsere Aufgabe bestand darin, Montagezeichnungen anzufertigen. Das ist zwar eine leichte, aber auf die Dauer, recht eintönige Angelegenheit.
Hin und wieder hatte ich das Glück, im Außendienst eingesetzt zu werden. Auf den Baustellen durfte ich dann Aufmaße nehmen, die für die Zeichnungen benötigt wurden.
An einem heißen Augusttag, die Sonne blendete mit unangenehmer Helligkeit vom weißen Zeichenbrett in meine Augen, kam der erlösende Anruf aus dem Büro. »Morgen«, so ordnete mein Chef an, »ziehen Sie sich einen Blaumann an und fahren zur Strafanstalt Tegel.« Danach erläuterte er mir meine Aufgabe. »Die Unterlagen bringen Sie am Montag mit ins Büro«, schloss er seine Ausführungen.
Freitag, in aller Frühe, stand ich vor dem ehrwürdigen Eingangstor der Anstalt.
Nachdem man mich eingelassen hatte, führte mich ein Bediensteter in einen Umkleideraum. Ein kleiner Ausweis wurde mir in die Hand gedrückt und wies mich als Besucher aus. Meine Taschen wurden geleert und mit meiner Kleidung eingeschlossen. Danach erhielt ich Verhaltensmaßregeln wie: Lassen Sie sich nicht in längere Gespräche mit den Gefangenen ein, und wenn Sie gebeten werden, etwas mitzubringen, zum Beispiel Schmöker oder Alkohol, dann gehen Sie auf keinen Fall darauf ein. Danach sind Sie nämlich erpressbar, weil das verboten ist. Hier haben Sie noch das Schlüsselbund für die Flure.
Einige Insassen, die unserer Firma als Helfer zugeteilt waren, arbeiteten bereits, ebenfalls in blauer Montur, auf dem Hof.
Vor der Tür wartete ein für mich abgestellter Helfer und grinste mich an. Das Grinsen ging optisch komplett daneben, weil eine quer über das Gesicht verlaufende Narbe, das Gesicht fratzenhaft verzerrte. Ich begrüßte ihn und wir begaben uns zum leeren Zellentrakt, in dem die Heizungsleitungen erneuert werden sollten. Bevor wir losgingen, borgte ich mir von einem Monteur unserer Firma eine große Rohrzange. Wer weiß, ob ich sie vielleicht noch brauche, dachte ich mit einem Blick auf meinen Begleiter.
Der Flur und die Zellen machten einen beklemmenden Eindruck auf mich. Es war recht dunkel, es roch muffig und man sah dem Gemäuer seine fast einhundert Jahre deutlich an. Ich fertigte meine Aufmaße und mein Helfer leuchtete mit der Taschenlampe. Bis auf kurze Anweisungen, die ich ihm gab, kam kein Gespräch auf. Ich vermied, dass er hinter mir stand und er setzte ab und zu sein entzückendes Grinsen auf. Als er etwas murmelte und kurz die Zelle verließ, dachte ich einen Augenblick daran, hinterherzulaufen. Würde er die Zellentür jetzt hinter sich zuwerfen und zuriegeln, dann hätte ich Schwierigkeiten mich bemerkbar zu machen. Doch er kam kurz danach zurück. Die Zwischentüren in den Gängen konnte ich mit den recht klobigen Buntbartschlüsseln aufschließen.
Nach einer Weile ließ sich ein Wächter sehen und fragte, wann ich fertig wäre. Als ich auf die letzte Zelle deutete, blieb er da, um mich anschließend aus diesem Trakt hinauszubegleiten. Die Schlüssel für die Außentüren des Gebäudes hatte nur er. Wir traten auf einen Hof hinaus, der einem Schrottplatz glich. Ich dankte meinem Helfer und er durfte gehen. Der Wärter erklärte mir, dass das der Kabelhof sei. Hier sah ich einige Zuchthäusler, das Wort hatte er selbst benutzt, beim Abisolieren von armdicken Elektrokabeln. Das Kupfer wurde von anderen Gefangenen abgeholt und in einem Schuppen verbracht. Mit einer Kopfbewegung deutete er auf diesen oder jenen Insassen und erklärte mir gedämpft die Vergehen. So erfuhr ich, dass der ein paar Schritte weiter arbeitende Mann seine Frau und seine drei Kinder erschlagen hatte und dass der da hinten an der Mauer, der lange gesuchte Mörder sei, der seine Eltern mit Gas umbrachte. Danke, dachte ich, mir reicht´s. Dann zeigte mir mein Begleiter den Gang außen um das Gebäude herum, zwischen Gefängnisgebäude und Außenmauer. »Am Blechtor klopfen Sie und kommen dann wieder auf den Vorhof«, erklärte er mir und verschwand.
Ich trabte den langen Weg bis zum Blechtor und klopfte. Keine Reaktion von der anderen Seite. Ich klopfte erneut. Wieder nur Stille. Entschlossen trat ich heftig gegen die Blechtür. Es dröhnte und sieh da, eine kleine Luke öffnete sich in der Blechwand. »Wat machste fürn Radau«, knurrte mich das Stück Gesicht an, das ich durch die Öffnung sehen konnte. »Ich will hier raus, ich habe Feierabend«, erklärte ich. »Raus wollnse alle, det is nischt Neues«, fuhr er fort. »Ich bin von Firma ROM und bin mit der Arbeit fertig«, sagte ich und hoffte rausgelassen zu werden. Der Mann trat dichter an die kleine Öffnung, sah meine blaue, der Kleidung der für uns arbeitenden Gefangenen identisch aussehende Montur und fragte, aber jetzt etwas ruhiger »Dann zeigen Sie mir bitte ihren Besucherausweis.«
Das haben wir gleich, dachte ich und begann zu suchen. In den Brusttaschen, kein Ausweis, in der Hosentasche auch nicht. Wo habe ich nur diesen verdammten Ausweis, dachte ich. Der Mann hatte interessiert meiner Suche zugeschaut und als ich immer fahriger herumsuchte gemeint:» wenn Du den gefunden hast, dann kannste Dich wieder melden«, und schloss die Öffnung, ehe ich ihn bitten konnte, im Büro nachzufragen. Ich hatte doch tatsächlich den blöden Ausweis mit meinen Sachen einschließen lassen.
Hinter mir brandete ein vielstimmiges Gelächter auf. Einige Gefangene hatte die Diskussion aus den Fenstern gespannt verfolgt und kriegten sich nun vor Lachen nicht mehr ein. Ihre Kommentare drangen kaum noch in mein Gehirn, das nun leicht paralysiert einen Ausweg aus dieser Situation suchte.
Ja, da oben, der Wächter im Turm an der Mauerecke. Der konnte vielleicht die Verwaltung informieren, dachte ich hoffnungsvoll.
Ich eilte bis unter den Turm und rief, nein ich brüllte meinen Wunsch zu ihm nach oben. Er trat nahe an die schrägen Scheiben heran, musterte mich und kam zu dem Schluss, dass ich nur einer der Gefangenen sein konnte. Als er sich wegdrehte und aus meinem Gesichtsfeld verschwand, wurde mir leicht flau im Magen.
Zurück über den Kabelhof, ohne Bewacher, nein, das war keine gute Idee, zumal die Außentür vom Gebäude abgeschlossen war.
Also noch einmal zurück zu der Blechtür. Wieder heftig Radau gemacht. Die Klappe ging erneut auf und, ein Lichtblick, ein anderes Gesicht schaute durch die Öffnung. Ich zwang mich ganz ruhig zu sein und entspannt auszusehen und bat darum, in der Verwaltung nach meinem Ausweis zu schauen, den ich leider dort vergessen hatte. Er zögerte, nickte dann und verschwand.
Nach einer gefühlten Ewigkeit ging das Tor auf. Dahinter warteten jetzt zwei Wärter. Sie kontrollierten meine Taschen, sahen sich meine Aufzeichnungen an und stellten noch ein paar Fragen zu meiner Person. Dann händigten sie mir den Besucherausweis aus. Ich konnte es nicht lassen, drehte mich zu meinen Zuschauern um, winkte ihnen lässig zu und trat in den Vorhof, in die Freiheit.
Ich habe mich noch nie so schnell umgezogen wie an diesem Tag. Nichts wie weg war mein Gedanke und jagte in meinem kleinen Kabinenroller wie gehetzt nach Hause.
Meine Mutter warf die Arbeitssachen umgehend in die Waschmaschine. Es dauerte nicht lange, als uns ein klapperndes Geräusch unruhig werden ließ. Wir schalteten das Gerät aus und öffneten vorsichtig die Tür. Etwas Wasser lief heraus und floss in den Bodenablauf. Plötzlich dämmerte es mir. »Das sind nur die Schlüssel für die Gefängnisgänge«, beruhigte ich meine Mutter. Im selben Moment ahnte ich das neue Problem. Die werden sicher bereits vermisst, dachte ich und suchte mir die Nummer von der Haftanstalt aus dem Telefonbuch heraus. Kaum hatte ich erklärt, warum ich anrief, wurde ich in einem äußerst barschen Ton aufgefordert, sofort die Schlüssel zurückzubringen. Andernfalls würden am nächsten Tag alle Schlösser in diesem Bereich auf meine Kosten erneuert. Es wären bereits erhöhte Sicherheitsmaßnahmen angeordnet worden. Puh, das war heftig. Ich versprach, sofort zu kommen.
In Rekordzeit raste ich zur Strafanstalt, eilte ins Büro, hörte mir noch einige unfreundliche Takte an und war froh diesen Ort wieder verlassen zu dürfen.
Am Montag saß ich wieder am Zeichenbrett, fand die Arbeit wie immer etwas eintönig, aber absolut nervenschonend.
© Dieter Kermas
Photo: © CaliforniaGermans———————————————————————————————————————–
Dieter Kermas, CaliforniaGermans Guest Author and a true Berliner, turned to writing after he retired from his profession as an engineer. Family and friends urged him to document his many experiences during his childhood in wartime Germany. This made for a collection of various essays which have been published here at CaliforniaGermans. Apart from his childhood memories he is also sharing some of his short stories and poems on CaliforniaGermans. Dieter Kermas, who loves to write, is currently working on his first novel. Some of his work has been included in anthologies.
To get in touch with Dieter Kermas, please send an email with subject line “Dieter Kermas” to: californiagermans@gmail.com
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