Unbeschwerte Tage in Neustadt
Essays by Dieter Kermas – (Part 2 )
.Der Sommer 1944 lag mit Wärme und strahlender Sonne über dem kleinen Ort Neustadt an der Tafelfichte im Riesengebirge, genauer gesagt im Isergebirge. Wie schon oft durfte ich mit Daniel, einem schnurrbärtigen, stets fröhlichen Kriegsgefangenen aus der Bretagne, aufs Feld fahren, um das Heu einzubringen. Ab und zu erinnerte er mich daran, ihn in Frankreich zu besuchen, wenn der Krieg, »fini« wäre, wie er sagte. Das Pferd trottete langsam mit dem leeren Heuwagen bis zum Feld, wo bereits Frau Schemmel auf uns wartete. Sie war mit dem Fahrrad vorausgefahren und hatte für die Pausen Buttermilch in einer großen Kanne und Butterbrote mitgenommen.
Die Tage vorher, das Wetter war hintereinander warm und trocken geblieben, hatte Frau Schemmel mit Daniel das Gras so oft gewendet, bis es luftig trockenes Heu war und an diesem Tag eingefahren werden sollte. Ich war mit meinen fünf Jahren wohl keine große Hilfe, aber wenn es daran ging, in den Pausen die Butterbrote zu verzehren, da entwickelte ich einen Riesenhunger. Die Buttermilch stand im Schatten eines Busches und war immer noch angenehm kühl. Wenn es nach Hause ging, war mein größtes Vergnügen, oben auf dem hoch beladenen Heuwagen zu sitzen, und mir die Gegend von oben her zu betrachten.
Anfangs wohnten wir bei der Familie Schemmel, da Oma nicht genug Platz für uns hatte. Später ergab sich die Gelegenheit, bei einer Frau Fuchs die Wohnung über deren Geschäft zu mieten. Die Wohnung lag zentral, ganz in der Nähe des Marktplatzes. An der Ecke befand sich eine Apotheke, wo ich mir hin und wieder Traubenzucker in Form von grauweißen Stücken holen durfte. Ich konnte daran stundenlang herumlecken.
Meine Einkaufstouren reichten bis zu den Kolonnaden am Marktplatz. Dort schickte Mutter mich hin, um Fasssauerkraut zu holen. Dieses wurde einfach in eine Tüte gefüllt, und ich musste mich beeilen, damit das Papier nicht unterwegs aufweichte. Ein wenig bummelte ich dennoch, denn Sauerkraut war auch eine Nascherei für mich! In der Straße hinter den Kolonnaden in Richtung Bahnhof gab es eine Drogerie, die kleine Blechdosen mit Rheila – Perlen verkaufte. Diese hatten es mir besonders angetan.
Meine Wege führten mich ab und zu auch in Richtung Sauerbrunn, einer natürlichen Mineralwasserquelle in den Bergen. Mit Oma war ich einmal dort, um das Wasser in Flaschen abzufüllen und es nach Hause zu bringen. Wenn ich den Weg weiterging, kam ich zu einer kleinen Brücke, unter der das Flüsschen Lunze hindurchrauschte. Hinter der Brücke auf der linken Seite lagen ein Teich und die Badeanstalt des Ortes. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich die entgegengesetzte Seite des Städtchens ebenfalls erwähnen. Vom Marktplatz verlief eine Straße, ich nenne sie einfach Bahnhofstraße, fast schnurgerade bis zum Bahnhof. In der Mitte zwischen Marktplatz und Bahnhof zweigt links eine Straße ab. In der Mitte dieser Straße, auf der linken Seite, befand sich das Haus der Kohlenhandlung Schemmel, in dem wir, wie bereits erwähnt, anfangs wohnten.
Der Kohlenplatz war auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Direkt vorne an der Ecke jedoch befand sich ein kleines Haus mit tief herunter-gezogenem Dach, aus dessen Dachrinne man mühelos hätte trinken können. Darin wohnte Hermännle mit seinen Eltern. Oft haben wir zusammengespielt und Unfug im kleinen Garten getrieben. Hermännles große Freude bestand darin, Regenwürmer mit einer Glasscherbe in kleine Stücke zu schneiden. Der Versuch mit einer Wespe ging prompt schief, der gestochene Finger wurde schön dick, und Hermännle heulte zum Erbarmen.
Neben diesem Häuschen, aber noch in der Bahnhofstraße, wohnte Frau Lauterbach. Sie lebte nun wirklich in einer sehr ärmlichen Behausung. Bei meinem einzigen Besuch konnte ich sehen, dass sie zusammen mit ihrer Ziege in einem Zimmer hauste, in dem auch der Herd und das Bett standen. Sie hatte, sicher auch durch ihr Aussehen, gebeugt, weißhaarig, mit Kopftuch und Krückstock, unter uns Kindern zu leiden. So liefen wir ihr nach und riefen: » Frau Lauterbach die Decke kracht « und ähnliche Reime.
Schräg gegenüber von Frau Lauterbach an der anderen Straßenecke stand ein stattliches Holzhaus, und davor breitete ein gewaltiger Birnbaum seine Äste aus. Die Birnen waren in jedem Sommer ein verlockendes Ziel. Sie waren goldgelb, groß, süß und so saftig, dass mir beim Hineinbeißen der Saft die Hände hinunterlief. Sie hingen meist zu hoch für uns Steppkes und so versuchten wir mit Stöcken ein paar herunterzuschlagen. Doch sobald das Fenster oder die Tür aufging, und der Birnbaumbesitzer erschien, stoben wir in allen Richtungen auseinander.
(Fortsetzung der Serie am nächsten Sonntag)
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